Susanne hatte mir während der ganzen Zeit aufmerksam zugehört. Ich hätte noch weiterreden können, zog es aber vor, Susanne die größte Wunde meines Lebens vorzuenthalten, denn ich befürchtete, sie würde sich angeekelt von mir abwenden. Für einen Moment schwieg ich. Dann schaute ich Susanne direkt in die Augen und fragte sie:
»Na, weißt du nun Bescheid? Sollte ich nicht besser gehen?«
Ich wandte den Kopf von ihr ab und senkte das Haupt wie ein Schuldiger, der auf seine Verurteilung wartete.
»Vertrau mir Stefan, ich werde dich nicht enttäuschen!«
»Wie bitte?« fragte ich ungläubig.
Sie wiederholte es mit weicher Stimme.
Endlich hatte Susanne das erlösende Wort gesprochen, auf das ich vielleicht ein Leben lang gewartet hatte. Sie fiel mir um den Hals und umarmte mich innig. Nie bin ich so von Herzen umarmt worden.
Meterdicke Mauern, die aus Scham, Angst und Schmerz bestanden, barsten und ließen tief vergrabene Emotionen ins Freie. Wir zogen uns an wie starke Magnetfelder und gaben uns einander hin. Ich spürte, daß ich Susanne in diesem Moment in mir aufgenommen hatte, daß wir eins wurden und sich meine Seele mit ihrer verbunden hatte. Dieses Geborgenheitsgefühl strömte wie eine Woge in die letzten Winkel meiner Seele. Ich hoffte, daß dieser Moment nie zu Ende gehen würde. Von dieser neu geschaffenen Dimension ließ ich mich ansaugen und verschlingen. Ich spürte weder Dominanz noch Unterwerfung, Kontrolle oder Grenzen. Alles war jetzt eins, ein Körper, der sich leidenschaftlich liebte. Wie ein kompliziertes Schloß hatte mich Susanne geknackt und mich ins Reich der Sinne entlassen. Ich hatte einen emotionalen Quantensprung vollzogen und in dieser Nacht einen höheren Lebenssinn begriffen.
Nach dem gemeinsamen Höhepunkt, dessen Dimension für mich alles bis dahin erlebte gesprengt hatte, dauerte es eine Weile, bis ich die Sprache wiederfand.
»Was war das denn?« fragte ich verwundert.
»Ich weiß es nicht«, sagte Susanne mit bebender Stimme. Ich zog sie an mich heran und spürte ihren warmen Körper, der noch zitterte. Wir lagen schweigend nebeneinander und ich streichelte sanft ihren Hinterkopf. Als Susannes tiefe Atemzüge zeigten, daß sie eingeschlafen war, lag ich hellwach auf dem Bett, starrte an die Decke und dachte nach.
Diese Nacht hatte etwas Kosmisches an sich. Es war mir, als hätte ich den Sinn meines Leidens und der vielen einsamen, gedankenvollen Stunden begriffen. Fast dreißig Jahre meines Lebens waren vergangen, ein mühsames Vorwärtsstreben, um hier und jetzt in dieser Offenbarung Gefühle zu finden, die seit Jahren abgespalten waren. Lange Zeit hatte es mich gequält, nur eine Hälfte in mir zu spüren, wissend, daß die andere da war, nur tief in mir vergraben, wie ein toter Zweig.
Wenn ich als Kind diese Ohnmacht und Hilflosigkeit erlebt hatte, fragte ich mich stets, ob es nicht einen Gott gäbe, der einem beistehen könnte. Wenn ich je an die Existenz eines höheren Wesens geglaubt hatte, so war es in dieser Nacht. Nach all den Wirren meines Daseins hatte er mir ein Zeichen gesetzt und mir diese Begegnung geschenkt.
Eigentlich wollte Susanne eine Sprachschule in Málaga besuchen, aber diese war geschlossen, so daß ihre Agentur sie nach Sevilla geschickt hatte. War das alles Zufall? Diese Kette glücklicher Umstände, die uns zusammenführte, hätte ich durch Raum und Zeit bis zum Urknall zurückspinnen können.
Ich versuchte, die Erlebnisse dieser Nacht noch einmal verstandesmäßig zu begreifen. War das alles real oder befand ich mich lediglich in einem Film, der gleich ins Stocken geraten und durch dessen Zelluloid sich eine Flamme ihren Weg bahnen und alles in gleißendes Weiß tauchen würde?
Ich vergewisserte mich, daß sich neben mir ein Mensch befand und nicht nur ein Phantasiegespinst. Susanne lag tatsächlich an meiner Seite, und dieses Gefühl der Befreiung hatte ich wirklich erlebt.
Nur einmal in meinem Leben hatte ich ein derart intensives Gefühl. Es war, als mein Vater nach einer Blinddarmoperation im Sterben lag. Ich war knapp sechs Jahre alt. Ein Freund der Familie kam zu uns nach Hause, um uns die Nachricht vom Tod meines Vaters zu überbringen. Ich lief in die erste Etage, hinaus auf den Balkon unseres Reihenhauses und vollzog Freudentänze. Ich fühlte mich unendlich frei – frei zu atmen, frei zu leben. Ich realisierte sofort, daß mein Vater nie wiederkommen und mich anrühren würde. Manchmal schämte ich mich dieser Gedanken, da ich mich über den Tod eines Menschen gefreut hatte.
Und jetzt, fast fünfundzwanzig Jahre später, erfuhr ich wieder eine so intensive Erlösung. Ich wurde von quälenden Schmerzen geheilt, durch einen Menschen, der mir etwas wiedergebracht hatte, was mir zustand.
Aber dennoch blieben Zweifel, trotz Susannes Schwur. Es waren Worte, und zu oft hatte ich an Worte geglaubt und war enttäuscht worden. Man kann nie Gewißheit haben, aber ich hoffte, daß die Beziehung nicht zu schnell vorbei sein würde.
Der Wecker holte mich aus einem tiefen Schlaf. Susanne hatte einem Klassenkameraden versprochen, ihn an den Strand zu begleiten. Sie hatten vor, nach Portugal zu fahren, das etwas über zwei Stunden mit dem Auto entfernt lag. Lustlos und schläfrig stand Susanne auf.
Ich nutzte die frühe Stunde, um meine Wäsche zu waschen. Nachdem ich die Kleidung auf der Dachterrasse zum Trocknen aufgehängt hatte, ließ ich mich in einer Ecke nieder und erledigte meine Hausaufgaben. Georg lugte plötzlich um die Ecke.
»Hallo«, sagte er langgezogen, »sieht man dich auch mal wieder. Wo steckst du denn die ganze Zeit?«
Ich bat ihn, sich für einen Moment zu setzen und stellte ihm die Frage, die mir seit gestern Nacht unter den Nägeln brannte.
»Bist du schon einmal einem Menschen begegnet und hattest nach vier Tagen das Gefühl, den Richtigen gefunden zu haben?«
Georg lachte erstaunt auf.
»Mein Gott, was ist denn mit dir passiert, dich hat es wohl total erwischt, gell? Was machst du dir denn für Gedanken, genieß doch einfach die Zeit.«
Ich stimmte ihm zu, daß Susanne ein hübscher Mensch war, aber das waren für mich Nebensächlichkeiten; sicher war ein attraktives Äußeres nicht unangenehm. Da war der Wandel der letzten Nacht viel bedeutender für mich, als ein kosmisches Ereignis meine Seele in erregende Schwingungen versetzt hatte. Das hungrige Suchen nach einem Leben voller Gefühle schien endlich ein Ende genommen zu haben, und nun lebten in meinem Inneren Emotionen und eine Leidenschaft, die mich entfesselten. Georg hatte recht, als er meinte, daß ich Susanne eigentlich gar nicht kannte, und so zweifelte ich, ob es richtig war, ihr von mir erzählt zu haben. Über meine Theorien ließ ich mich nicht weiter aus. Wie sollte ich Georg auch verständlich machen, was mit mir in den letzten Tagen passiert war?
Ich fühlte mich nackt und schutzlos, so als läge mein Leben jetzt in Susannes Händen.
Dieser Tag sollte uns gehören. Ich war froh, einmal mit Susanne alleine zu sein, was in der Residenz kaum möglich war. Ständig begegnete man jemandem, wir hatten nie Zeit für uns. Und auch Renate, die Susanne dauernd umschwirrte, hatte heute Besseres zu tun. Susanne und ich wollten an diesem strahlenden Tag Sevilla erkunden. Es gab viele Ecken, die ich noch nicht gesehen hatte. Ich packte eine Flasche Rotwein ein, die wir uns irgendwo an einem schattigen Ort gönnen würden.
Wir hatten keine genaue Vorstellung, was wir uns anschauen sollten, und ließen uns einfach treiben. Zunächst streiften wir durch das Barrio de Santa Cruz, dem ehemaligen Judenviertel Sevillas. Das Labyrinth aus engen Gassen, die manchmal so schmal waren, daß man die Häuserwände fast mit ausgestreckten Armen berühren konnte, wirkte schön und geheimnisvoll. Wir strandeten schließlich an der Plaza de España, einer der für mich schönsten Orte der Stadt. Mächtig umschlang der Palacio Español, der verschiedene Baustile vereinte, halbkreisförmig die Plaza de España. An diesen Platz schloß sich der María Luisa-Park an, Sevillas grüne Lunge. Die Schatten der hohen Bäume spendeten eine angenehme Kühle gegen die drückende Hitze.
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