»Mal schau’n«, war ihre knappe Antwort.
Das genügte mir, zumindest hatte ich mir eine realistische Chance bewahrt. Mühsam erledigte ich die wichtigsten Hausaufgaben für den nächsten Tag. Später setzte ich mich dann auf die Terrasse und wartete. Ich hörte Susannes Stimme. Sie saß mit den beiden Frauen vom Nachmittag im Innenhof und plauderte angeregt mit ihnen. Als gegen Mitternacht die Unterhaltung verstummte, lauschte ich gespannt. Schließlich erschien Susanne auf der Dachterrasse. Mein Herz tat einen Luftsprung vor Freude, aber ich versuchte, ruhig und abgeklärt zu wirken. Wir redeten über das Sprachenlernen und andere Kulturen und Gebräuche. Ich referierte über meine Erfahrungen aus Japan und wußte einige witzige Anekdoten zu erzählen. Dachte ich, mit Japan einen besonderen Aufhänger zu haben, wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Susanne berichtete von längeren Reisen durch Thailand, Indonesien, Indien und Nepal, Länder, in denen sie teilweise über Monate gelebt hatte. Dies erlaubte ihr eine spezielle Vereinbarung, die Susanne mit ihrem Arbeitgeber getroffen hatte. Ich bewunderte so viel Mut und Abenteuerlust aber gleichzeitig machte es mich auch stutzig. Ich hatte einmal vom Reisefieber gelesen, das in einen Reisezwang ausartete. Den konnte ich bei mir selbst feststellen. Oft hatte ich den Eindruck, aus dem Alltäglichen und Gewohnten ausbrechen zu müssen. Vielleicht war Sevilla, obwohl ein Wunschaufenthalt, auch ein Weg, dem Bewerbungsdruck und der Realität ein Stück weit zu entkommen. Ich fragte Susanne, wovor sie eigentlich weglaufe. Verwundert zog Susanne die Augenbrauen hoch und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Diese Frage schien sie ernsthaft zu beschäftigen und erst nach einer Weile kam ein kleinlautes »ich weiß nicht« hervor. Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Ich wechselte das Thema, aber irgend etwas Bedrohliches schien das Wort weglaufen bei Susanne ausgelöst zu haben.
Kurz vor eins verabschiedete sie sich, nicht ohne eine Verabredung für den folgenden Abend mit mir getroffen zu haben. Ich schlug zehn vor zehn vor, weil es mir gerade so in den Sinn gekommen war. Ich blieb noch eine Weile unter dem Sternenhimmel sitzen und dachte über Susanne nach. Was war das für ein Mensch, der solche Empfindungen in mir auslöste, und welches Geheimnis barg er in sich? Ein interessanter Fall, der meine Neugierde auf sie steigerte.
Heute morgen sah ich Susanne nur kurz während der Pause. Ich erinnerte sie an unsere Verabredung. Susanne lächelte hintergründig. Brian fragte mich nach dem Unterrichtsschluß, ob wir nicht am Abend ausgehen sollten. Als ich ihm sagte, daß ich bereits verabredet war, entfuhr ihm ein langgezogenes »hey tío«.
Ich war gutgelaunt und erledigte meine Aufgaben am Nachmittag. Es gab viel nachzuholen, aber ich war erstaunt, welches Pensum ich bis zum Abend absolviert hatte.
Gegen neun Uhr machte ich mich für den Ausgang zurecht. Ich duschte ausgiebig und rasierte mich gründlich. Eitel war ich schon, wenn es darum ging, einen guten Eindruck beim anderen Geschlecht zu hinterlassen. Pünktlich um zehn vor zehn stand ich geschniegelt und gestriegelt vor Susannes Zimmertür. Mein Herz schlug schneller als sonst. Ich klopfte vorsichtig, aber nichts rührte sich. Kein Lichtschimmer drang unter der Zimmertür hervor. Ob Susanne wohl schlief? Ich klopfte erneut.
»Susanne?«
Hatte sie unsere Verabredung vergessen und war bereits ausgegangen? Deutlich spürte ich eine Enttäuschung in mir hochkriechen. Resigniert stieg ich die Treppen herab. Möglich, daß Susanne ja doch kein näheres Interesse an mir hatte. Ich verfluchte meine Einbildungskraft. Ich wollte gerade die große schmiedeeiserne Türe aufziehen, als ich hinter mir ihre Stimme hörte.
»Hey, Stefan, warte mal schnell!«
Susanne führte ein Telefongespräch am Apparat in der Eingangshalle. Wie ein Stromschlag durchzuckte mich die Freude darüber, daß Susanne noch nicht ausgegangen war. Ich zeigte auf meine Uhr und wollte ihr damit andeuten, daß sie eigentlich schon viel zu spät dran war. Mit Gesten versuchte mir Susanne klarzumachen, daß ich mich gedulden sollte. Nach dem Telefonat entschuldigte sie sich für die Verspätung, rannte wie von der Tarantel gestochen nach oben, um sich umzuziehen und stand wenig später mit einer Unschuldsmiene vor mir. Wir gingen ins sopa de ganso. Andrew und Brian saßen mit anderen Schülern an einem großen Tisch. Ich stellte Susanne vor.
Mein Interesse galt allein ihr. Während wir uns unterhielten, studierte ich ihr Gesicht und ihren Körper. Ich sinnierte über ihren Charme, dachte daran, wie es wohl wäre, wenn meine Lippen die ihren berühren würden, erst langsam, dann immer leidenschaftlicher. Die Anziehungskraft, die Susanne auf mich ausübte, war magisch. Mich schauderte und deutlich regte sich ein Widerstand in mir, aber der Sog hatte etwas Verführerisches an sich. So ein Geschöpf lief garantiert nicht alleine unter Gottes Sonne herum. Bestimmt hatte sie einen Freund. Dennoch mißfiel mir der Gedanke, daß es noch einen anderen gab, mit dem sie Gemeinsames teilte.
»Nun, gleich wirst du mir erzählen, daß du einen Freund hast«, stellte ich irgendwann zusammenhanglos fest. Sie nickte. Verdammt!
»Aus und vorbei, kein weiteres Interesse«, dachte ich. Obwohl ich diese Antwort erahnt hatte, traf sie mich wie ein Faustschlag. Ich überspielte meine Enttäuschung.
»Danke, das war’s. Ich gebe dir zehntausend Minuspunkte und wir kündigen ihnen hiermit das Konto.«
Sie lachte, ergriff meinen Oberarm und fixierte mich mit ihrem Blick auf eine Art und Weise, die bittend wirkte.
»Dann baggere mich doch mal an!«
Mir verschlug es fast die Sprache. Ich wußte, daß sie es ernst meinte, aber in diesen Worten lag kein Zwang. Es klang eher wie eine Einladung.
Kurz vor Mitternacht verließen wir das Lokal und gingen schweigend die wenigen Meter zur Residenz. Was sollte ich jetzt tun? Frauen mit Freund waren eigentlich ein Tabu für mich. Schon einmal hatte ich die leidvolle Erfahrung gemacht, daß eine Frau nach einer kurzen Romanze zurück in ihre Gewohnheit gekehrt war. Der Zwiespalt zwischen Wollen und Sich-Wehren rief den Gedanken in mir wach, daß das Ganze hier etwas mit einem Wagnis zu tun hatte. Ich ging wie üblich auf die Dachterrasse, um noch eine Zigarette zu rauchen. Susanne begleitete mich. Ich stammelte irgend etwas vor mich hin.
Du Trottel! Alle Zeichen standen auf Angriff, doch ich kam mir vor wie ein Autofahrer an einer grünen Ampel, der den ersten Gang nicht reinkriegte. Ich entschuldigte mich und holte in der Küche ein Bier. Lange hielt ich die kühle Dose an meine Stirn, in der Hoffnung, daß sich meine Unruhe legen würde. Was sollte ich jetzt tun? Ach, wenn doch nur Mate hier wäre, dann könnte ich ihn fragen. Imaginär saß er in der Küche und trieb mich an: »Los ran, du Idiot! Sie will dich und du willst sie. Stefan, es ist auch dein Urlaub. Nimm sie dir, was hast du denn zu verlieren!?«
Ich setzte mich wieder neben Susanne, und wir tranken schweigend das Bier. Der Kloß war nicht mehr nur im Hals, sondern im ganzen Körper zu spüren. Ich war wie gelähmt.
»Du erwartest von mir, daß ich dich küsse, nicht wahr?«
Susanne nickte und lächelte dabei. Ich beugte mich langsam vor und kam so nah vor ihr Gesicht, daß ich abwechselnd ihre Augen fixierte. Mann, sie hat doch einen Freund! Ich wartete nur darauf, daß sie plötzlich aufschreckte, sich dieser Tatsache bewußt würde und fluchtartig das Weite suchte. Susanne holte mich aus meinen zweifelnden Gedanken.
»Was studierst du?«
Ich sah ihr hübsches Gesicht mit dem halbgeöffneten Mund, in den ich gleich hineinzufallen drohte. Mein Puls lag schätzungsweise bei einhundertvierzig.
Vorsichtig berührten sich unsere Lippen. Ganz weich und sanft. Leise Schauer rieselten in mir herab, so als sei ich in ein elektromagnetisches Feld geraten.
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