Celine Ziegler - REMEMBER HIS STORY

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In Honors Grundschulzeit gab es einen Jungen, an den sie sich ewig erinnern würde. Er war anders, als die anderen Jungs. Seine Haut war täglich bedeckt mit blauen Flecken und er hatte diese kleine Narbe unter seinem Auge. Er war ein Außenseiter, keiner konnte ihn leiden. Nur Honor. Sie wollte mit ihm spielen, während die anderen Kinder aus der Klasse Angst vor ihm hatten, weil ihn die Lehrer als ein grauenvolles Kind bezeichneten. Sie war ein glückliches Kind, mit einer glücklichen Familie, sie wollte, dass der traurige Junge auch glücklich werden würde. Doch er mochte Honor nicht, er mochte niemanden. Und dann, in der dritten Klasse, verschwand er. Der kleine Junge mit den Locken und den grünen Augen verschwand und kam nie wieder zurück.
Doch was, wenn Honor diesen kleinen Jungen Jahre später wieder sieht?
Wird sie all diese Rätsel lösen? Wird sie die kranke, gläubige Mutter von Nathan überleben und endlich herausfinden, welches Band zwischen ihr und ihm wirklich steht?
Für jemanden zu kämpfen, den man liebt, kann schwer sein, doch für jemanden zu kämpfen, mit dem du jeden Tod sterben würdest, ist schwieriger.

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Verunsichert stehe ich in dem kleinen Flur und versuche, mich nicht zu offensichtlich umzusehen. Vielleicht sollte ich mich auch nicht so genau umsehen, denn der erste Eindruck schockiert mich noch mehr. Kaputte Türrahmen, ein kaputtes Regal im Flur, das Glas der Tür zum Badezimmer ist zersprungen, es liegen sogar noch Scherben auf dem Boden. Bleiche Wände ohne Tapete, sie sind einfach grau, strahlen eine ungemeine Einsamkeit und Kälte aus.

„Ich kann dir natürlich keine Luxusvilla bieten, wie du zu Hause hast, aber ist mir auch scheiß egal“, holt mich Nathan aus meiner Erkundigungstour und zieht sich die Mütze mit Kapuze vom Kopf, lässt beides einfach auf das kaputte Regal fallen. Er zeigt auf die Tür mit dem zersplitterten Glas. „Da drin ist das Badezimmer. Nutz das und dann verschwinde wieder.“

Ich kann nicht mal ein Wort sagen, weil ich noch zu verdutzt von diesem ganzen Ambiente bin.

Nathan geht an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, und geht durch einen Türrahmen ohne Tür, lässt sich dort auf eine alte Couch fallen. Das wird wohl das Wohnzimmer sein … oder so. „Und komm bloß nicht auf die Idee, dass du mir irgendeine Art Rechenschaft schuldig bist. Ich brauche kein Danke, es reicht, wenn du einfach schweigend aus meiner Wohnung verschwindest.“

Ich starre einfach nur zu ihm rüber, wie er mit verschränkten Armen auf der Couch sitzt, seine Beine auf einen kleinen Tisch davor legt und sein Hund sich vor ihn auf den Boden setzt. Gerne würde ich wissen, ob er wenigstens so etwas wie einen Fernseher hat, doch ich traue mich nicht nachzusehen. Deswegen nicke ich einfach nur und gehe mit meinem Violinenkoffer zu der Tür mit der kaputten Scheibe. Ich schiebe vorsichtig die Scherben davor zur Seite und öffne sie.

Ich hatte erwartet, dass das Bad stinken oder abartig aussehen würde, doch es sieht sogar seltsamerweise gepflegt aus. Zwar hat das Waschbecken ein paar Risse und das Regal darunter hat auch ein eingetretenes Loch in der Tür, doch der Rest ist sauber. Kein Schimmel, keine ekligen Krabbeltiere, die mir Albträume bereiten könnten. Wenigstens das.

Erleichtert schließe ich die Tür hinter mir und stelle meinen schmutzigen Koffer auf den Boden. Zitternd entledige ich mich meiner Klamotten, weil es einfach sehr, sehr kalt ist, und steige in die Wanne, die gleichzeitig die Dusche ist.

Wer hätte letzte Woche noch gedacht, dass ich irgendwann mal bei Nathan unter der Dusche stehe. Ich hoffe, das Wasser ist warm. Wie schrecklich wäre es für ihn, wenn er immer mit kaltem Wasser duschen müsste.

Ich stelle die Dusche an und traue mich noch nicht unter den Strahl, weil es noch kalt ist, bete gleichzeitig, dass es bald warm werden wird. In der Zeit sehe ich mich genauer um.

Er hat genau zwei Duschmittel. Eins für die Haare, eins für den Körper. Ich kenne Kerle, bei denen steht die ganze Dusche voller Waschzeug, weil sie nicht genug bekommen können, doch Nathan scheint eher bedächtig damit umzugehen. Aber natürlich kann ich auch nicht erwarten, dass er viel davon hier stehen hat, immerhin wohnt er auch in … solch einer Wohnung.

Als ich mich unter den Strahl stelle und erleichtert das warme Wasser über meinen Körper fließen lasse, empfinde ich plötzlich tiefstes Mitleid für ihn. Ja, vielleicht hat er einen schlechten Charakter und eine unreine Seele, doch das hier … dieses Zuhause hat er nicht verdient. Das ist grausam für einen Neunzehnjährigen. Ich wünschte, Grandpa würde ihm mehr bezahlen, damit er sich wenigstens eine etwas bessere Wohnung leisten kann. Vielleicht in einer netteren Gegend, mit netteren Leuten. Ich bin mir sicher, dass seine Nachbarn keine netten Leute sind.

Jetzt stellt sich mir trotzdem die Frage, welche Eltern ihr Kind in solchen Verhältnissen leben lassen. Das hier ist grausam, ich könnte meinen Sohn hier nie so schrecklich leben lassen. Wo sind sie? Sie müssen doch ein schlechtes Gewissen haben, ihm wenigstens finanzielle Hilfe bieten. Wer weiß, ob er sich überhaupt jeden Tag etwas Ordentliches zu essen leisten kann.

Eventuell musste er deshalb damals in der Apotheke stehlen. Weil er kein Geld hat. Ich wüsste gerne, was es war, das er gestohlen hat, vielleicht verrät das mehr über ihn.

Ich benutze Nathans Duschmittel nur spärlich, weil ich ihm nicht zu viel davon nehmen möchte. Ich bin mir sicher, dass er sich davon auch nicht so viel leisten kann, wenn er schon das ganz billige Zeug benutzt.

Nach knapp sieben Minuten steige ich wieder aus der Dusche und mache mich in der eisigen Kälte auf die Suche nach einem Handtuch. Hier ist nichts, rein gar nichts, was man mit einem Handtuch vergleichen könnte. Na super. Jetzt muss ich ihn rufen, obwohl er mir das strikt verboten hat. Doch es muss sein.

Leise öffne ich die Tür und will gerade rufen, da sehe ich schon ein schwarzes Handtuch vor der Tür liegen. Überrascht bücke ich mich danach und bin mal wieder baff von Nathans Aufmerksamkeit. Das ist schon die dritte nette Sache, die er heute für mich getan hat. Die vierte, wenn man bedenkt, dass er mich vor seinem eigenen Hund „gerettet“ hat.

Ich nehme das Handtuch schnell und gehe – mir damit die Haare trocken rubbelnd – zum Waschbecken und betrachte mich in dem Spiegel. Doch das geht wohl nicht.

Nathan besitzt keinen Spiegel.

Vor mir hängt nur ein Regal, doch kein Spiegel. Allerdings erkennt man ganz klar auf den Regaltüren einen quadratischen Rand und abgenutzten Kleber, auf dem definitiv mal ein Spiegel hing. Er hat ihn abgerissen?

Es gibt so viele Dinge an ihm, die einfach keinen Sinn machen, aber gleichzeitig so gut zusammenpassen. Er ist eine definitiv verkorkste Seele, wieso sollte er also nicht seinen Spiegel abreißen? Wieso sollte er nicht einen gruseligen Hund mit nur einem Auge halten? In seinem Kopf wird es mit Sicherheit Sinn machen, irgendwo ganz tief in seinen verschlüsselten Gedanken. Ich als Außenstehende kann nur die Stirn runzeln, doch ich habe natürlich auch keinen Blick in seinen Kopf, wie gerne ich es auch hätte.

Ich bücke mich nach meinen Klamotten, lasse sie aber schnell wieder fallen, weil sie wirklich völlig mit Schlamm und Wasser getränkt sind. Es ist unmöglich, sie anzuziehen, ohne dass ich nicht gleich wieder schmutzig werde. Mir das Handtuch über die Schultern werfend, weil ich so dermaßen friere, seufze ich. Das ist ein Desaster.

Eine Lösung würde sich natürlich anbieten, doch mich das zu trauen, ist eine andere Sache. Nathan einfach mal nach Klamotten zu fragen, ist wahrscheinlich schlimmer, als würde ich ihn nach hundert Pfund fragen. Es ist sehr intim und da er es nicht so mit dem Teilen seiner Privatsphäre hat, bin ich mir sicher, dass er mich auch gleich nackt rausschmeißen wird, wenn ich ihn danach frage. Doch mir bleibt nichts anderes übrig. Meine Klamotten sind einfach im Eimer.

Ich wickle mir das schwarze Handtuch um den Körper, bin froh, dass es groß genug ist, um meine komplette Blöße zu bedecken, und öffne wieder die Tür. Oh je. Nathan wird wütend werden. Er wird wütend werden und mich rausschmeißen, ich bin mir so sicher, doch hoffe auf ein wenig Verständnis von ihm. Dass eventuell seine nette Phase noch nicht vorüber ist und er mir einfach ein altes T-Shirt und eine alte Hose von ihm gibt. Ich muss nur nach Hause kommen.

Beinahe ängstlich laufe ich durch den Flur, achte darauf, nicht auf gefährliche Gegenstände zu treten, und stelle mich in den Türrahmen zu dem Raum, wo Nathan sitzt. Er sitzt gelangweilt auf der Couch und sieht fern. Doch dann schaut er zu mir. Sein Blick fällt auf meinen Körper, der kaum bedeckt ist, dann wieder in mein Gesicht. „Was soll das?“, fragt er und setzt eine böse Miene auf.

Noch mehr verunsichert halte ich das Handtuch um meine Brust fester und sehe auf meine blanken Füße. „Ich, ähm …“ Weil ich denke, dass er mich wieder gereizt unterbrechen wird, stoppe ich und sehe ihn an, aber er tut es nicht. Er sieht mich zwar genervt an, doch redet nicht. Deswegen rede ich weiter. „Ich habe keine Klamotten.“

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