Kapitel 3: Könnte Selbstmord vorliegen?
Kommissar Grachus geht gedanklich die Fälle durch, die sie in den letzten Jahren gemeinsam bearbeitet haben. Obwohl sie manchen Kriminellen hinter Schloss und Riegel gebracht haben, fällt ihm keiner ein, dem er einen Mord aus Rache zugetraut hätte. Im Gegenteil, ihm fallen sogar zwei Fälle ein, wo sich Kriminelle nach Absitzen ihrer Strafe bei Aschoka bedankt haben, weil er sich vor Gericht für sie eingesetzt hatte, so dass das Strafmaß daher milder ausfiel als sie selbst erwartet hatten. Aschoka hatte seine eigenen Vorstellungen über Gerechtigkeit, und die versuchte er bei Gericht zur Geltung zu bringen, wenn es ihm notwendig erschien. Der Alte hatte sich bei seinem um 20 Jahre jüngeren Kollegen mehrmals kritisch geäußert über Urteile, die er als ungerecht ansah. Einmal hatte er Grachus gegenüber bemerkt bei einem Urteil über einen Wirtschaftsverbrecher: „Dieser Mann hat so viele Menschen betrogen, dass er eine harte Strafe verdient. Doch er bekommt nur eine Bewährungsstrafe, weil er einen guten Anwalt hat. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun?“
Als Grachus mit seinen Überlegungen nicht weiter kommt, fällt ihm die Sekretärin Aschokas, HELGA BOQUEL, ein. Zwanglos fängt er ein Gespräch mit ihr an über ihren verstorbenen Chef: „Immer noch ist rätselhaft, woran er gestorben ist. Trauen Sie ihm einen Selbstmord zu?“ Zu seiner Verwunderung antwortet Frau Boquel sofort ohne weitere Überlegung: „Wissen Sie, Herr Kommissar, als ich vom Tode meines Chefs erfuhr, dachte ich sofort an Selbstmord. Er wirkte in letzter Zeit oft sehr nachdenklich, fast depressiv. Er ging öfter als früher ans Grab seiner Frau und war oft gedanklich abwesend. Den Tod seiner Frau hatte er offensichtlich innerlich nicht verarbeiten können.“
Grachus fällt auf, dass die Sekretärin das sagt, als wolle sie jemanden vom Selbstmord Aschokas überzeugen. Warum sagt sie ihm das, jemandem, der ihren Chef genauso gut gekannt hat wie sie selbst? Steckt Absicht dahinter? „So offensichtlich, wie sie es darstellt, ist ein Selbstmord nicht“, sinniert Grachus. Außerdem weist die Leiche Aschoka`s keinerlei Anzeichen von Selbstmord auf.
Grachus erinnert sich sogar an ein Gespräch mit seinem Kollegen, in dem dieser ihm anvertraut hatte, er sei im Begriff, Mitglied einer Sekte zu werden, die Selbstmord streng ablehne. Dieses Gespräch hatte erst vor etwa zwei Wochen stattgefunden, und Grachus hatte sich gewundert über die Bemerkung, weil er sich Aschoka als Sektenmitglied nicht so recht vorstellen konnte. Doch egal, ob mit oder ohne Sekte, er hat Zweifel an dem, wovon Helga Boquel überzeugt scheint, am Selbstmord seines Kollegen. Er sieht die Sekretärin ohnehin etwas skeptisch, weil er weiß, dass sie die Geliebte eines Rechtsanwalts ist, der einen Mafioso verteidigt hat, den Kommissar Aschoka zu Fall bringen wollte. Als er jedoch seinem Kommissar-Kollegen gegenüber Zweifel an der Loyalität seiner Sekretärin geäußert hatte, hatte dieser abgewinkt mit der Bemerkung, er habe schon seine Gründe, an seiner Sekretärin festzuhalten.
Kapitel 4: Untersuchung des Todesfalls
Ebensowenig offensichtlich wie ein Selbstmord liegt ein Mord vor: Keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Todes, kein Mord motiv weit und breit. Nur dieses Gefühl des Kriminalisten – wohl mehr intuitiv -, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Man stirbt doch nicht einfach so! ...wenn man nicht krank ist und mit 63 Jahren zwar nicht mehr jung aber auch nicht so alt ist, dass man unbedingt sterben müsste oder gar wollte? Grachus kannte seinen Kollegen als ernsten, ja sogar etwas verschlossenen Mann, den natürlich der Tod von Tochter und Ehefrau arg mitgenommen hatte. Aber deshalb Selbstmord? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Würde Aschoka doch in zwei Jahren in Pension gehen und dann alte Freunde besuchen, wie er Grachus noch kürzlich erzählt hat. Diese leben am indischen Ozean – Grachus konnte sich im Moment nicht genau erinnern, wo – und er, Aschoka, habe dann Gelegenheit, seine Kenntnis der indischen Geschichte und auch der indischen Sprache zu vertiefen.
Das alles hört sich für Kommissar Grachus nicht nach Selbstmord an! Außerdem ist da ja noch seine Enkelin ROXANE und sein Schwiegersohn TIMO BEIL. Aschoka lebte mit ihnen zusammen in seiner schönen großen Villa, er im Erdgeschoss, Schwiegersohn und Enkelin im 1. Stock. Auch wenn Aschoka über sein Privatleben wenig gesprochen hatte, war doch allen seinen Kollegen klar, dass er ein gutes Verhältnis zu beiden hatte. Sie wussten, dass er nach der Devise des indischen Kaisers Ashoka lebte, in die er seine gesamte Umgebung einschloss: „Alle Menschen sind meine Kinder. Was ich mir für meine eigenen Kinder wünsche …, das wünsche ich mir für alle Menschen“. Alle drei gemeinsam haben versucht, das Familienleben so gut eben möglich nach dem Tod von Ehefrau und Oma bzw. Schwiegermutter aufrechtzuerhalten.
„Nein“, denkt Grachus, „Selbstmord kommt für mich nicht in Frage!“. Die Unterhaltung mit der Sekretärin von Aschoka hat ihn in seiner Haltung eher bestärkt als verunsichert. Grachus möchte die Meinung von Professor Wessels hören, dem besten Freund Aschokas. Als er ihn anruft, versichert auch der ihm, einen Selbstmord könne er sich nicht vorstellen. „Zwei Tage vor seinem Tod habe ich noch mit ihm gesprochen und mich mit ihm für den Film Der Tiger von Eschnapur verabredet, der ab morgen im Scala-Filmtheater läuft. Sogar Geld für Karten im Vorverkauf hat er mir schon gegeben, was er sonst nie macht“, versichert der Professor.
Gleichzeitig wachsen in Grachus die Zweifel am natürlichen Tod seines Kollegen. Daher geht er am nächsten Morgen zu seinem Chef, Kriminaldirektor OKTAVIAN NEUMANN und überzeugt diesen, den Fall untersuchen zu lassen, da ein unnatürlicher Tod nicht ausgeschlossen werden könne. Neumann gibt sein Plazet und beauftragt ihn mit der Untersuchung.
Kapitel 5: Ist HELGA BOQUEL glaubhaft?
Dass Kommissar Grachus mit der Aufklärung der Todesumstände beauftragt wird, ist eigentlich klar. Wie konnte es auch anders sein, hatte sich doch Aschoka selbst noch kurz vor seinem Tod bei Neumann überaus lobend über seinen jüngeren Kollegen geäußert. Im letzten Mordfall, den sie gemeinsam gelöst hätten, sei es den vorzüglichen Recherchen Grachus` zu verdanken, dass man den Mörder schließlich überführen konnte. „Er hat eine Nase wie ein Spürhund“, hatte Aschoka seinem Kollegen kriminalistisches Geschick attestiert.
„Aber gehen Sie behutsam zu Werke! Falsche Verdächtigungen führen leicht zu Skandalen ...und die können wir uns am allerwenigsten leisten!“ „Klar, Chef, Sie wissen doch, dass ich mein kriminalistisches Handwerk bei Kommissar Aschoka gelernt habe, und für den war umsichtige Recherche oberstes Gebot. Einen Verdacht werde ich erst aussprechen, wenn ich ganz konkrete Anhaltspunkte habe, nach Möglichkeit schon mit Beweischarakter!“ „Das nehme ich als persönliches Versprechen!“, sagt Neumann. „Na, dann viel Erfolg, so oder so!“ wünscht ihm der Kriminaldirektor.
Als erstes greift Grachus auf das Gespräch mit der Sekretärin Aschokas, Helga Boquel, zurück. Warum hat diese Frau den Tod ihres Chefs quasi als selbstverständlichen Selbstmord dargestellt, wo doch einiges dafür spricht, dass kein Selbstmord vorliegt? Z.B. die Verabredung Aschokas mit seinem Freund Professor Wessels, gemeinsam ins Kino zu gehen, oder seine Äußerung über seine Pläne nach der Pensionierung? Wiederum fragt er sich: „Will sie etwas verbergen? Ist sie daran interessiert, dass der Fall möglichst schnell ad acta gelegt wird?“ Er blättert in den Unterlagen Aschokas, zu denen er als engster Mitarbeiter und als aufklärungsbeauftragter Kommissar freien Zugang hat. Um ganz sicher zu sein, hat er sich von Neumann ausdrücklich den Arbeitskollegen gegenüber autorisieren lassen, alle Unterlagen, die Aschoka betreffen bzw. die sich zur Bearbeitung bei ihm befanden, einzusehen.
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