Lavinia nickte. „Okay, ja, wenn du meinst. Willst du das jetzt machen oder morgen?“
Karl erhob sich vom Sofa. „Wie gesagt, warum warten. So könnten wir es eventuell jetzt herausfinden und doch schon morgen losfahren.“
Lavinia nickte. Sie stand auch vom Sofa auf, immer noch mit der Kuscheldecke umschlungen. „Hier steht mein PC, da kannst du gerne suchen.“
Karl setzte sich an den PC und gab in einer Suchmaschine die Worte „Hexe, Kinderheim, Deutschland“ ein. Die ersten Treffer ergaben nichts, er musste einige Seiten weitersuchen, um auf einen annehmbar guten Treffer zu geraten. Es schien ein Forum zu sein, wo sich Menschen über bestimmte Themen austauschten. Darunter befanden sich auch zwei Frauen, die in einem Kinderheim aufgewachsen waren und sich mit krassen Schimpfworten über eine alte Erzieherin ausließen. Karl sah Lavinia an. „Kann es das sein?“
Lavinia blickte auf den PC-Bildschirm und las die Einträge der Frauen. Der Name der alten Erzieherin wurde hier mit Frau Notburga Welmers bezeichnet. Lavinia dachte nach. Konnte sie allen Ernstes diesen Namen der Frau vergessen oder so stark in ihr Unterbewusstsein verdrängt haben, dass sie nun keine Spur hatte, um auf Ahnenforschung gehen zu können? Nervös versuchte sie sich zu erinnern, irgendeine Erinnerung aus ihrer Kindheit hervorzukramen, der einen kleinen Fetzen des Namens enthielt.
Notburga Welmers. Sie wiederholte diesen Namen immer wieder im Geiste. Karl sah sie erwartungsvoll an. „Und?“, fragte er ungeduldig.
Lavinia schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen. Wenn man sich nicht mehr erinnern kann, ist das schwierig. Wir haben nie ihren Namen gesagt, nur schlimme Namen für sie. Wenn er vielleicht nur ein einziges Mal gefallen ist, dann ist das nicht einfach, sich wieder daran zu erinnern, wenn er mir als Kind nichts bedeutet hat.“
Karl seufzte. „Ja, aber dieser Name ist wichtig. Wenn wir sonst keine anderen Treffer finden, der auf eine Hexe in einem Kinderheim hinweist, müssen wir diese hier nehmen und morgen dorthin fahren.“
Lavinia nickte. „So ist es dann wohl.“
Karl nickte ernst und widmete sich wieder seiner Internetsuche. Er durchforstete alle 20 Seiten der Treffersuche der Suchmaschine, doch kein Eintrag passte so gut wie die Einträge der jungen Frauen. Ob es sich hier wirklich um das Kinderheim handelte, in dem Lavinia aufgewachsen war?
II.) AD 1204 n.Chr., Schwarzwald, Heiliges Römisches Reich
Einst trug es sich zu, dass ein nie enden wollender Winter das Land bedeckte und es unter sich begrub. Es lag bereits eine enorme Decke aus weißem jungfräulichen, glitzerndem Schnee auf der Erde und munter rieselte der Schnee weiter leise hernieder.
Es war Nacht und ein kleiner Junge in Armenkleidung, in dreckigen, zerrissenen Lumpen, stapfte halberfroren durch den immer höher werdenden Schnee. Bibbernd und keuchend kämpfte sich der arme Bub durch das eisige Weiß, ohne irgendetwas in der Dunkelheit zu erkennen.
Er befand sich im Wald, doch konnte er nicht recht sagen, ob vor ihm sich weiterhin der Wald erstreckte oder ob er bereits so weit gewandert war, dass sich eine Stadt vor ihm auftat.
Zwar erkannte er nun Lichter, doch wusste er nicht recht woher sie kamen.
Allmählich schwanden dem Buben die Kräfte und sein Leib war eiskalt.
Er durfte jetzt nicht stehenbleiben, durfte nicht das Bewusstsein verlieren.
Er musste auf jeden Fall seine erfrorenen Gliedmaßen bewegen, sie warmhalten.
Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht und so fiel er bewusstlos inmitten der Nacht in den eisigkalten Schnee.
* * *
Wärme. Wohlig weiche Wärme. Ein Duft nach Lavendel erfüllte seine Sinne. Ein zarter Windhauch fuhr durch sein Haar. Ihm war, als läge er auf einer Wolke. Was war geschehen?
Ein paar sanfte Laute entfuhren ihm und sogleich erklangen laute Schritte, die sich ihm näherten. Jemand legte eine Hand auf seine Stirn. Eine kleine zarte Damenhand. Noch mehr Lavendel zog in seine Nase.
War er tot?
War er im Himmel?
War die Hand auf seiner Stirn die eines Engels gar?
Mit Bedachtheit bemühte sich der Junge darum, seine Augen zu öffnen. Ihn umgab ein helles, gelbliches Licht.
Eine zierliche in Weiß gekleidete Gestalt saß an seiner Seite. Verschwommen nahm er alles wahr. Erst bei mehrmaligem Blinzeln verschwand die Verschwommenheit und sodann empfing ihn die Gestalt in Weiß mit einem sonnigen Lächeln. Es war eine Dame. Rotblonde Locken zierten ihren Schopf und große grüne Augen leuchteten auf ihn herab.
„Sind Sie ein Engel, mein Fräulein?“, flüsterte der Bub.
Die weiße Gestalt lachte laut. Es war ein wohliges, warmes Lachen, voller Sonne und Frieden und Heiterkeit. „Oh, nein, mein lieber Junge“, begann die warme weiche Frauenstimme zu sprechen. „Ich bin gewiss kein Engel. Ich kümmere mich um dich.“ Sanft strich sie über seine Wange. „Und meine Tochter auch.“ Sogleich trat ein Mädchen hinzu, die genauso warm lächelte, mit rotblonden Locken und grünen Augen, wie die ihrer Mutter.
„Guten Tag, mein Werter. Ich bin Theresia“, sprach das Mädchen und tätschelte sanft die Hand des Jungen. „Du hast draußen im kalten Schnee gelegen, wir dachten schon, du wärest tot!“ Das Mädchen sprach recht hastig und Sorge mischte sich in ihre Erzählung. „Gott sei Dank haben dich unsere Bediensteten rechtzeitig gefunden, sonst wärest du es jetzt wirklich.“ Nun kehrte wieder Heiterkeit in ihr Antlitz zurück und sie strahlte den Jungen an, der wiederum bei diesem Anblick des Mädchens, bei dieser engelsgleichen Schönheit, nichts zu entgegnen vermochte.
Doch dann fiel ihm ein Wort ein, das das Mädchen erwähnte, was ihn stutzig machte. „Verzeihung, was genau meinen Sie mit „unsere Bediensteten“ ?“ Die weiße Dame lachte leise. Ehe die Mutter es erklären konnte, platzte es aus dem Mädchen heraus: „Wir sind Könige.“ Stolz sah sie auf den Jungen herab. Sogleich wurde ihre Mutter ernst, und streng entgegnete sie an ihre Tochter gewandt: „Hör mir bitte gut zu, liebe Tochter. Das wir von königlichem Blute sind, enthebt dich nicht vom Menschsein und der Barmherzigkeit. Vergiss das niemals: Vor Gott sind wir alle gleich. Nutze deine Macht niemals für Frevelhaftes. Hast du verstanden?“ Das Mädchen war feuerrot geworden und gehorsam und mit gesenktem Haupte erwiderte sie ein leises „Gewiss, Frau Mutter.“ Der Junge im Bett sah diesem Zwischenspiel entgeistert zu. „Oh, bei meiner Seel! Eure Hoheit! Ich wusste ja nicht! Ich bitte um Verzeihung.“ Hastig suchte der arme Bub nach geeigneten Worten, auch er war nun putterrot. Er wollte schon vor Scham aus dem königlichen Bette steigen, doch die Königin hielt ihn zurück. „Junger Mann, ich bitte darum, liegen zu bleiben. Du musst dich stärken! Und sprich mich bitte an, wie es dir beliebt. Gerne auch etwas legerer.“ Die weiße Dame lächelte milde. Etwas beruhigt legte sich der Bub wieder nieder. Er nickte. „Ist gut, Madame.“ Das Mädchen lächelte. „Du kannst bei uns bleiben, bis es dir wieder gut geht.“ Der Junge nickte erneut. „Vielen Dank, wertes Fräulein.“ Mutter und Tochter lächelten den Jungen aufmunternd an. „Wie ist denn dein Name, mein Junge?“, fragte da die Weiße Dame. Der Junge zögerte kurz. „Jonathan, Madame. Jonathan Engelsen.“ Die Weiße Dame und das Mädchen lächelten einander an. „Nun, dann herzlich willkommen bei uns, Jonathan.“ „Danke sehr, Madame.“ Es herrschte kurz Stille. Dann sprach der Junge weiter: „Vergeben Sie mir, aber … wie lange habe ich geschlafen?“ Die weiße Dame überlegte. „So ungefähr vier Tage. Du scheinst wohl sehr erschöpft gewesen zu sein. Der Doktor war hier und hat nach dir gesehen. Eine leichte Unterkühlung hast du dir zugezogen, die bestimmt inzwischen auskuriert ist. Man bereitet gerade Essen für dich zu, ich nehme an, du hast Hunger?“ Sie zwinkerte den Jungen an, der nun heftig nickte. „Oh ja, Madame. Das habe ich.“ Sogleich trat ein Dienstmädchen hinzu und stellte auf den kleinen Tisch mitten in dem großen Zimmer ein Brett mit Mahlzeiten ab. „Wie gewünscht, das Essen für den Jungen, Eure Hoheit“, sprach das Dienstmädchen, machte einen Knicks und verschwand aus der Türe. Die weiße Dame lächelte den Jungen an. „Nun, dann werden wir dich mal in Ruhe essen lassen. Ich hoffe es schmeckt dir.“
Читать дальше