Lavinia starrte sie erschrocken an. Dann blickte sie auf den Brief in ihren Händen und dann zu Karl. Er war schon geöffnet worden.
„Haben Sie den Brief geöffnet?“, wollte Karl in aufbrausendem Ton wissen. Die Hexe sah ihn unschuldig an. „Ja aber gewiss doch! Er lag ihr bei, als sie bei uns abgegeben wurde. Sie war noch ein Baby, so muss ich als ihre Erziehungsberechtigte den Brief öffnen. Darin steht immerhin ihr Name und etliche andere Informationen, die ich benötigte. Sonst wäre sie mit falschem Namen oder gar ohne Namen aufgewachsen!“ Wie ein Unschuldslamm sah sie Karl an. Dieser hielt die Bemerkung zurück, dass er bezweifle, dass sie es nicht sonderlich gestört hätte, wenn Lavinia mit falschem Namen aufgewachsen wäre. Stattdessen sah er Lavinia an, wie sie den Brief anstarrte und offenbar überlegte, ob sie ihn öffnen sollte.
„Na los, Livi“, drängte Karl. „Mach ihn auf. Lies ihn!“ Hoffnungsvoll sah er sie an. Lavinia schluckte. „Ich habe Angst, Karl.“
Die Hexe schnaubte spöttisch. „Ja, wie immer. Du hast immer Angst. Vor allem und jedem.“
Karl sah sie wütend an. „Hören Sie damit sofort auf!“
Die Hexe seufzte. Es klang, als habe sie einen guten Witz gerissen und keiner besäße die Intelligenz diesen zu verstehen.
Karl wandte sich wieder an Lavinia.
Diese gab sich selber einen Ruck und zog langsam und bedächtig den Brief aus dem Umschlag.
IV.) 1204 - 1209 n.Chr., HEILIGES RÖMISCHES REICH, SCHWARZWALD
„Du Armer“, sagte die Königin und tupfte dem armen Jungen sanft mit einem feuchten Tuch die blutenden Wunden ab.
„Das brauchen Sie wirklich nicht zu tun, Hoheit. Es gibt Diener für diese Arbeit“, sprach der Vetter herablassend und sah dem für ihn widernatürlichen Geschehen angeekelt zu: Wie eine Königin einem kleinen wertlosen Bauerntrampel die blutigen, schleimigen Wunden abtupft!
Was für eine Frevelhaftigkeit!
Die Königin überhörte diese Bemerkung und widmete sich weiter dem Jungen. „Das ist wirklich schlimm, dass du im Spielzimmer über all die Bauklötze gestolpert bist, mein armer Junge. Du hättest dir allerlei brechen können! Da hattest du aber großes Glück gehabt.“ Sie lächelte den Jungen milde an. Dieser sah ausdruckslos zum nun gehässig grinsenden Vetter hinüber, während die Prinzessin voller Sorge der Behandlung ihrer Mutter zusah.
„Es ist wahrhaftig nicht schlimm, Frau Mutter?“, fragte diese besorgt.
„Aber nein“, sprach die Königin beruhigend. „Jedoch müsst ihr von nun an gut beim Spielen Acht geben.“
Die Prinzessin nickte heftig. „Gewiss, Frau Mutter. Versprochen.“
Die Königin lächelte sanft. Sie tupfte noch ein, zwei Male die Wunde des Buben ab und ging dann aus dem Raum.
Sofort kam die Prinzessin auf ihn zugestürzt. „Gott sei Dank dafür, dass dir nichts zu Schlimmes zugestoßen ist!“ Sei schien ernstlich besorgt zu sein. „Gar nicht auszudenken, was sonst passiert wäre! Du hättest tot sein können!“
Nun lachte der Vetter gehässig. Er trat näher an die beiden. „Ja“, sprach er in selbstverliebtem Ton, „das stimmt. Wie furchtbar, wenn du jetzt tot wärst! Was für ein ganz und gar schlimmer Gedanke!“
Er lachte wieder.
Der Bub erkannte sofort den teuflischen Plan des Vetters, doch die Prinzessin schien so nicht von ihrem Vetter denken zu wollen. Ihr guter Vetter …
„Kommt, wir gehen zurück ins Spielzimmer“, sprach da der Vetter kühl weiter.
Geschockt drehte sich die Prinzessin zu ihm um. „Ins Spielzimmer? Jetzt? Nach allem, was passiert ist? Wie kannst du nur übers Spielen nachdenken?“
Ihr Vetter zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er war es gewohnt, dass man das tat, was er wollte.
„Eine gute Aufheiterung. Außerdem lebt er noch! Es ist fast nichts passiert!“
Die Prinzessin war nun wütend. „Ganz genau: Fast!“
Der Vetter verdrehte die Augen. Frauenzimmer! „Und was sollen wir sonst machen? Händchenhalten?“ Er lachte erneut.
Die Prinzessin sah ihn wütend an. „Nun, er sollte sich hinlegen. Und ich werde neben ihm sitzen bleiben und ihm die Stirn kühlen.“
Der Bub sah sie verwirrt an. „Ich möchte mich nicht hinlegen. Wirklich. Es geht schon.“
Der Vetter sah seine Base entsetzt an. „Du willst Krankenschwester spielen? Aber wozu? Das ist niedere Arbeit! Kann er nicht alleine schlafen?“
Die Prinzessin ignorierte ihn und wandte sich an den Buben. „Komm, du musst dich hinlegen.“ Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn wider aller Proteste des Buben in sein Schlafgemach, wohin auch der Vetter eilig folgte.
Dort sprach die Prinzessin zum Vetter: „Außerdem ist niedere Arbeit erst dann niedere Arbeit, wenn man sie als solche bezeichnet. Dienst am Menschen und an Gott ist wertvolle Arbeit.“
Der Vetter verdrehte erneut seine Augen und sah angewidert zu, wie seine Base königlichen Blutes einen armen Buben vom Lande zu Bett brachte und ihm die Hand hielt.
Nach ein paar Minuten stand die Prinzessin vom Bette auf, nachdem ihr der Bub versichert hatte, dass alles in Ordnung sei und er alleine schlafen wolle, und ging zum Vetter. „Komm, wir gehen nach draußen.“ Sie ging schon mal voraus und der Vetter blieb mit dem Buben allein zurück. Dieser kam mit zornigen Zügen auf ihn zu, beugte sich zu ihm hinunter und zischte: „Egal wie sehr sie dich mag, egal was euch sonst noch verbindet: Ich werde eines Tages die Prinzessin heiraten, wir sind Könige! Dazu sind wir bestimmt! Solcherlei Dinge verstehst du natürlich nicht, Trampel! Mach dir also keine großen Hoffnungen, klar? Sie und ich werden eines Tages über euch kleine arme Wesen herrschen und du wirst dann wünschen niemals geboren worden zu sein!“
Mit diesen Worten verließ er mit diabolischem Lachen das Zimmer.
Der Bub kam sich nun so fürchterlich klein vor, so fürchterlich ungeliebt und fremd. Obwohl er nicht wollte, schlief er doch bald darauf ein. Er träumte sonderbare Dinge, von zwei Königreichen, die in ein und demselben Lande herrschten: Das eine war düster und böse und kein Leben herrschte darin, und das andere war hell und gut und das Leben blühte nur so.
Der Bub war wohl doch müder als er dachte und so schlief er Stunde um Stunde. Erst gegen Abend schaute die Königin vorbei und weckte ihn sanft.
„Wach auf, kleine Schlafmütze“, sprach diese sanft zum Buben. „Gleich ist es Zeit zu dinieren. Oder möchtest du lieber hier oben essen? Fühlst du dich noch nicht wohl?“
Der Bub sah sie schlaftrunken an. „Ich möchte sehr gern hier oben dinieren, wenn es in Ordnung geht.“
Die Königin lächelte. „Natürlich. Ich sage dem Dienstmädchen Bescheid, dass es dir etwas zu essen bringen möchte.“
* * *
So verstrichen die Tage und der arme Junge musste Tag für Tag neue Streiche des Vettern der Prinzessin über sich ergehen lassen. Einmal stellte er ihm beim Spiel auf der Wiese vor dem Palaste ein Bein, dann stieß er ihn hart zu Boden oder trat ihn heftig gegen das Schienbein unter dem Tisch beim Dinner. Der Bub musste bei Letzterem arg an sich halten, um nicht vor allen anderen laut aufzuheulen und so schluckte er mit heißen Tränen in den Augen den furchtbaren Schmerz hinunter, den der grausamen Tritt verursacht hatte.
Da sah ihn der Vetter mit höhnisch grinsendem Gesichte an und sah zur Prinzessin, die von alledem nichts mitbekam.
An einem schönen Tage im Garten des Palastes saß der arme Bub auf einer Bank und sah traurig auf die feinen Blumen, die ihm zu Füßen emporwuchsen. Auf einmal gesellte sich der Vetter dazu und der arme Bub wagte gar nicht zu ihm aufzuschauen. So behielt er den Blick gesenkt und starrte wie gebannt auf die Blumen.
„Wenn ich erstmal die Prinzessin geheiratet habe“, so sprach plötzlich der Vetter, „dann kommt all der Schund hier weg. Wenn ich hier regiere, gibt es keine dummen Blumen mehr. Dann trample ich hier alles tot!“
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