„Von draußen, glaub ich.“ Jonas deutete zum breiten, offenen Durchgang zu den Umkleidebereichen.
Auf den grünen Fliesen war es verdammt rutschig, ihre Fußsohlen machten schmatzende Geräusche auf dem feuchten Boden. Der Blick des Dunkelhaarigen aus dem Becken folgte ihnen. Sie hasteten aus dem Schwimmbad mit seinem leichten Wasserrauschen und erreichten den Vorraum mit den Garderoben.
Dort schnell die Handtücher vom Haken fischen und schon im Gehen um die Schultern werfen. Endlich nicht mehr dieses völlige Frieren und Zittern. Umziehen hätte zu lange gedauert. Badeschlapfen angezogen, weiter.
Ganz draußen vor der Tür zum Wellness-Bereich, auf dem Gang lauschten sie wieder. Weiß gestrichene Wände, ein paar Türen, der Boden lindgrün gekachelt, aber immerhin trocken. Berenike fror wieder, Zugluft auf den feuchten Haaren. „Und jetzt?“
Ratlos sahen sie sich an. Erst blieb alles still, kein Mensch war zu sehen. Ein leerer öder Gang, nicht einmal Dekorationen gab es hier. Nur das Schild Richtung Wellness-Bereich, und eine Werbung für Massagen.
„Haben wir uns getäuscht?‟ Berenike blickte zurück zu der Tür, durch die sie gerade gekommen waren. „Aber der Schrei kam doch nicht aus einem der Pools, das glaube ich immer noch nicht.‟
„Nein‟, bestätigte Jonas, „würde ich auch nicht so sehen. Nur, wir wissen nicht wirklich, ob es sonst noch Räumlichkeiten gibt. Oder warst du schon so oft hier?‟
Sie schüttelte den Kopf, legte den Finger an die Lippen.
„Da!‟
Ein Rascheln. Dann – Gepolter.
„Die Richtung!“ Berenike rannte schon auf eine halb offen stehende Tür zu. Ein Summen lag in der Luft, vermutlich vom ein wenig weiter entfernten Restaurant. Geklirr von Gläsern, Lachen.
Hatte sie überreagiert? War dort einfach etwas zu Boden gefallen und deshalb hatte jemand geschrien? Andererseits – dermaßen laut.
Vorsichtig schob Berenike die Tür weiter auf, ohne sich noch zu zeigen. Sie wappnete sich und atmete tief durch. Vorsichtig warf sie einen Blick hinein. Ein gemütlicher Raum. Rote, bequem aussehende Sofas. Eine Teekanne und mehrere Tassen auf einem Tisch. Teller mit Petit-Fours. Auf den Fensterbrettern neben Blumentöpfen Kerzen in hohen Gläsern, die gegen das Dunkel draußen anflackerten.
Es roch nach Lavendel, doch darüber legte sich der Hauch von etwas Anderem – Berenike überlegte. Ein wenig säuerlich … als wäre jemandem vielleicht übel geworden?
Ihr Blick streifte weiter. Ein Bücherregal, das eine ganze Wand bis hoch zur Decke einnahm. In einer Reihe Kriminalromane von Agatha Christie, Edgar Wallace, Arthur Conan Doyle, andere aus dem Salzkammergut. Ein paar himmelblaue Liebesromane, genauso wie Zeitschriften. Aber kein Mensch da. Was oder wer hatte hier gepoltert? Oder womit?
„Und?“, fragte Jonas hinter ihr.
Sie sahen sich ratlos an.
„Ich weiß nicht. Das ist rätselhaft. Vielleicht haben wir überreagiert? Vielleicht kam das doch aus dem Restaurant oder der Küche oder so?“ Berenike wickelte sich in ihr Handtuch, der Raum war geheizt, sie fror trotzdem in den Badeklamotten.
„Hier ist niemand“, sagte Jonas langsam.
„Nein, so weit war ich auch schon.“ Berenike starrte die Tassen auf dem Tisch an. „Aber jemand muss gerade eben noch hier gewesen sein. Die Tasse ist fast voll.“ Sie tastete die Kanne ab, öffnete sie. „Und die ist heiß.“
„Vielleicht musste derjenige zur Toilette?“, überlegte Jonas laut. „Aber was war dann der Schrei? Und das Poltern?! Hier stimmt doch was nicht.‟
„Psst.“ Berenike lauschte. „War das ein Röcheln?“ Ohne zu warten, hechtete sie um den Tisch herum und hinter das Sofa. „Meine Güte!“
Da lag jemand. Auf dem schwarzen Teppichboden. Verdreht. Zusammengekrümmt. Keine Bewegung. Schwarze Haare. Ein enger Pulli. Kurzer Rock, schwarz bestrumpfte Beine. Und Schuhe – rote Stöckelschuhe - waren von den Füßen gerutscht.
„Hallo?“, fragte Berenike und beugte sich zu der Liegenden. Sie tupfte sie vorsichtig an der Schulter an. „Können Sie mich hören?“
Ein Röcheln war die Antwort. Aber immerhin das.
Jonas ging neben ihr in die Knie. Er legte der Person einen Finger an die Schläfe, sein Blick besorgt. Er hielt das Ohr über ihr Gesicht. „Kein Puls und kein Atem mehr“, sagte er dann.
Vorsichtig drehte er die Unbekannte auf den Rücken. Ihr schmales Gesicht sah älter aus, als Berenike angesichts der Kleidung erwartet hätte. Verwischte Schminke, tiefe Falten um die Mundwinkel. Auf ihrer Bluse klebte Dreck …
Jonas prüfte ihren Mund. „Ich fürchte, sie hat sich erbrochen. Aber … daran stirbt man normalerweise nicht.‟
Jonas begann mit einer Herzmassage. Rasch suchte Berenike auf dem Handy nach Staying Alive von den BeeGees und schaltete den Song auf Lautsprecher. Das hatte sie so gelernt, im Erste-Hilfe-Kurs. Der richtige Rhythmus für diese Wiederbelebungsmaßnahme konnte so leichter gefunden werden. Jonas drückte immer wieder – nichts tat sich. Die Frau bewegte sich nicht, begann nicht zu atmen.
„Haben die einen Arzt hier?“, fragte Jonas schließlich, als sie die Hoffnung fast schon aufgegeben hatten.
„Keine Ahnung, aber es ist ja keine Kuranstalt.“
„Scheiße, das Handy ist in der Garderobe eingesperrt.“
„Ich suche wen vom Personal.“ Berenike stand auf.
Sie hastete zur Tür. Krimi-Bibliothek stand draußen auf einem Schild.
Wie passend.
Eine Tote in der Bibliothek.
Wie bei Agatha Christie.
Das Buch verkaufte sie oft, hatte es aber nie gelesen.
Im Restaurant ging es hektisch zu. Gedämpftes Licht in dem hohen, nach mehreren Seiten offen gebauten Raum, an den Fenstern Leuchtgirlanden, Kerzen auf den Tischen. Kürbisse mit geschnitzten Grimassen, aus denen die Kerzenlichter ihre Schatten warfen. Die Gesichter der Gäste lagen im Halbdunkel, fast nur von unten beleuchtet. Wie Fratzen sahen sie fast aus.
Berenike drängte sich vorsichtig zwischen den dichtstehenden Tischen durch. Das Restaurant war so gut wie voll besetzt, Stimmen schwirrten durcheinander. Einige Gäste starrten sie an, wie sie da mit Badeanzug, Handtuch und nassen Haaren daher kam. Kellner in Lederhose und karierten Hemden hasteten mit riesigen Tabletts voller Teller vorüber. Geschirr klapperte, die Geräuschkulisse war enorm, beinahe betäubend.
„Hier bitte Ihr Zirbensekt!‟, brüllte eine Serviererin im rosa Dirndl gerade einer älteren Dame zu, als sie neben Berenike servierte.
Berenike hielt die Kellnerin auf.
„Bitte, jemand braucht Hilfe“, sagte sie.
„Bitte in der Rezeption bescheid sagen, Sie sehen doch, was hier los ist!‟, keuchte die Kellnerin und wandte sich ab.
Von rechts rief ein Gast mit grauem Vollbart und dickem Bauch nach dem „Fräulein!!“
„Sie verstehen mich nicht“, erklärte Berenike und hielt die Kellnerin am Arm zurück, „es geht um Leben und Tod.“ Sie formulierte es ungern so, aber ja, vermutlich war schon jede Hoffnung auf Leben vorbei.
Warum immer ich?
Warum finde immer ich Tote?
„Bitte, gibt es hier einen Arzt?“
Die Kellnerin schüttelte den Kopf. Der bärtige Gast begann mit lauter, tiefer Stimme über schlechtes Service zu schimpfen und dass er Hunger habe, wenn er in ein Restaurant gehe.
„Ich dachte, ich habe hier ein First-Class-Relax-Hotel gebucht!‟ Er sprang auf und warf seine Stoffserviette – orange, was sonst! - auf den Teller vor sich.
Ein jüngerer Kellner eilte auf ihn zu, beugte sich begütigend zu ihm und redete auf ihn ein.
„Tut mir leid!“ Erst jetzt schien der Kellnerin Berenikes Outfit aufzufallen. „Ist was im Schwimmbecken passiert? Dann muss der Bademeister ...“
„Von dem habe ich gar nichts gesehen. Und nein. In der Bibliothek. Jemand liegt da leblos.“
Читать дальше