„Das wirklich Wundersame allerdings ist, dass jedes Instrument ein gewisses „Eigenleben“ hat, da die Klänge je nach Instrument und Bediener variieren können.“, fügte Sloban noch hinzu. „Und vergiss nicht zu erwähnen, dass es nur sehr wenige Seelensteine gibt. Sie verbinden sich mit dem Spieler, deshalb ist jedes Instrument nur auf einen Spieler abgestimmt. Diese Spieler müssen gleichzeitig eine natürliche Anziehungs- und Verbindungskraft haben, die sie mit dem Eiswasser eingehen können. Das ist die zweite Bedingung, die an das Spielen dieses Instrumentes geknüpft ist.“ Nun glühte Carla knallrot voller Verlegenheit und sie fuhr ihren Bruder spielerisch an: „Nun ist es aber gut. Ich weiß ja, dass du vor Stolz platzen willst, aber so wichtig brauchst du das auch nicht zu nehmen.“ Rudi grinste. „Er hat aber recht, und er kann tatsächlich mehr als stolz darauf sein, eine so wunderschöne und talentierte Schwester zu haben.“ Lachend schnappte sich Carla ihr Paket und verschwand damit in ihrem Raum. Zurück blieben Rudi und Sloban, die es sich gemütlich machten und über die jeweiligen Ereignisse der letzten Tage redeten. Kurz darauf kehrte Carla zurück und beteiligte sich ausgelassen an den Erzählungen. Viel zu schnell verging dabei die Zeit und Sloban musste zurück. Die beiden jungen Männer waren sich mittlerweile sehr sympathisch geworden und Rudi konnte Carlas Trauer verstehen, als sie sich von ihrem Bruder verabschiedete.
An diesem Tag war Rudi von seinen Pflichten befreit worden und verbrachte vergnügliche Stunden mit Carla beim Erzählen. Nach dem Abendessen kamen auch Edgar, Thomas, Adalbert und Berthold dazu und es wurde ein ausgelassener Abend. Am nächsten Tag nahm der Alltag wieder seinen Einzug. Wie im Flug verging die Zeit mit lernen, arbeiten und Unterhaltungen abends im Aufenthaltsraum. Oftmals gingen Carla und Rudi in ihrer Freizeit schwimmen, denn auch Rudi hatte sich an das Baden gewöhnt, selbst wenn er es nie so lange im Wasser aushielt wie Carla. Doch wenn sie dort zusammen tobten, vergaß er die Kälte vorübergehend.
Eines Nachmittags schlug Carla vor, den Wassertänzer mit an den See zu nehmen, um dort zu spielen. Sie könnten ja später noch schwimmen. Grinsend sah sie Rudi an, der enthusiastisch zustimmte. „Jaja, du willst dich heute wohl vor dem Schwimmen drücken?“, kicherte sie. „Nööööö! Dein Spielen klingt jedoch einfach zu schön. Ich könnte dir stundenlang zuhören.“ Carla strahlte. Während sie an ihrem üblichen Schwimmplatz den Wassertänzer aufbaute, schaute Rudi ihr fasziniert zu. Die Sonnenstrahlen streichelten ihre Haut, das Wasser glänzte silbrig im Sonnenschein und die Wellen gluckerten sanft im leisen Wind. Schon setzte Carla sich auf einen Felsstein und begann zu spielen. Rudi wagte kaum zu atmen, so unglaublich schön erklang nun ihre Musik. Die Wassertropfen schienen mitzuschwingen, die Sonne spiegelte sich wie verzaubert in dem Instrument und eine Symphonie, so unwirklich und wie aus einer anderen Welt, erklang. Rudis Herz erbebte vor Glück und er spürte die Klänge bis ins Innerste seiner Seele. Eine Stille breitete sich in ihm aus, die gleichzeitig ein singendes Jubilieren war. Er saß wie erstarrt und konnte die Augen nicht von diesem Zauberbild wenden. Und dann fing Carla an zu singen. Ihre perlende Stimme mischte sich mit dem klingenden Glockenklang des Instruments, eine unbeschreibliche Schwingung voller Regenbogenwellen entstand zwischen der Spielerin und ihrem Wassertänzer und gebannt lauschte Rudi:
Leise klingt die Glasmusik,
tief in dir so Stück für Stück.
Spiel die Kraft der Melodie,
ewig bindet Träume sie.
… ..
Findest du was in dir ruht?
Dann wird auch dein Leben gut.
Welt erlischt und wird gebaut,
wer sich weit ins Leben traut.
… ..
Zauber, tief im Stein versenkt,
der dich doch so sicher lenkt.
Wassertropfen, Glas erklingt,
wenn der Wassertänzer singt
… ..
Zauberlebensmelodien,
die für dich im Wasser zieh’n.
Ton in dir so ankerfest,
wenn dein Herz du treiben lässt.
… ..
Glas, Musik, Gefühl erwacht,
Zauberflug zum Stern der Nacht.
Farbenmeer im Lied des Lebens,
Ewigkeit klingt nie vergebens.
Waren Minuten vergangen? Oder Stunden? Waren es Ewigkeiten? Rudi hätte es nicht zu sagen vermocht. Als Carla still vor ihrem Wassertänzer verharrte, umarmte er sie und sagte bewegt: „So etwas hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu hören gedacht. Du bist wirklich mehr als eine Meisterin.“ „Vor allem liegt es auch an dem Wasser hier“, lächelte Carla. „In geschlossenen Räumen klingt ein Wassertänzer wunderschön. Spielt ihn jemand im Freien, verstärkt dies seine Kraft und Schönheit noch. Doch am Wasser erwacht für jeden seine ureigenste Melodie und das Wasser zeigt sein Geheimnis auf unvergleichliche Weise.
Wenn die Sonnenstrahlen sich im Wasser spiegeln, erwacht eine Symphonie, die unwirklich klingt. Sie lässt die Herzen erbeben, so dass jeder still wird und den Klängen bis ins Innerste lauschen kann.
Ich habe keine Ahnung, was du in dir vernommen hast. Und jeder andere wird etwas anderes hören, ganz so, wie sein Herz und seine Seele es geben. Das ist das wirkliche Geheimnis eines Wassertänzers und seines eingestimmten Spielers.“ „Und es ist ein traumhaftes Erlebnis. Ich kann dir gar nicht genug dafür danken“, flüsterte Rudi, noch ganz versunken. „Was ist das für ein wunderschönes Lied gewesen?“ „Es ist ein uraltes Lied, das Lied des Wassertänzers. Dieses Lied lernen wir als allererstes. Es ruft den Wassertänzer und bevor wir ihn das erste Mal spielen dürfen, singen wir für ihn dieses Stück. Wenn dann die Wellen vom Wassertänzer ausgesendet werden, ist er bereit, uns zu akzeptieren. Der Uralte hat mir erzählt, dass einmal ein Spieler von seinem Wassertänzer abgelehnt wurde. Der Stein wurde daraufhin ganz dunkel. Es dauerte etwas, bis der richtige Wassertänzer gefunden worden war. Die Wassertänzer haben ihre eigenen Vorlieben, was die Stimme eines Spielers betrifft.“ Rudi war perplex und sah Carla schockiert an. „Der Wassertänzer entscheidet, welcher Spieler ihn spielen darf? WOW!“ „So ist es nun mal. Die echten Wassertänzer waren noch nie einfach. Sie sind mehr als ein Instrument. Sie sind so etwas wie Gefährten fürs Leben.“ Liebevoll strich sie über die Streben.
Hand in Hand saßen sie nun am Wasser und schauten dem Spiel der Wellen zu. Erst, als es anfing zu dämmern, schauten sie sich erstaunt an und merkten, wie viel Zeit plötzlich vergangen war. „Diesen Nachmittag werde ich nie im Leben vergessen. Er war himmlisch.“ Glücklich schaute Rudi Carla an. „Auch ich werde diese Stunden für immer im Gedächtnis behalten. Denn auch mich berührt der Wassertänzer jedes Mal. Vielleicht mehr, als jeden anderen, denn er spricht gleichzeitig zu mir. Und wenn dann noch das Wasser antwortet, werden Geheimnisse zu Träumen verwoben. Ich liebe es, am Wasser zu spielen.“ Carla packte sich ihr Bündel und gemeinsam gingen sie zum Abendessen zurück.
Wenn Rudi nun seinen freien Tag hatte, ging er recht ungern ins Dorf und zu seinen Eltern, denn Carla konnte ihn noch immer nicht begleiten. Eisriesen brauchten etwa ein Jahr, um sich an die Wärme der unteren Regionen anzupassen. Danach war auch das möglich, und Rudi freute sich schon auf den Tag, an dem er Carla mitnehmen und seine bezaubernde Freundin seinen Eltern vorstellen konnte. Auch diese waren schon auf dieses ungewöhnliche Mädchen gespannt, von dem ihnen Rudi nie genug erzählen und vorschwärmen konnte.
Ehe sich alle versahen, war wieder ein viertel Jahr herumgegangen. Für Carla war es nun wieder Zeit, für eine Woche nach Hause zu gehen. Dieses Mal konnte sie alleine zum Eisschloss hinauf. Schließlich kannte sie ja den Weg und wollte nicht wie ein kleines Kind immer wieder abgeholt werden. Deshalb begleitete Rudi sie ein kleines Stückchen. Doch bald ging es für ihn nicht weiter. Die eisige Kälte ließ seine Glieder schlottern und Carla drang in ihn, nun endlich umzukehren. Sie versprach ihm, beim nächsten Mal eine Extrakleidung mitzubringen, die es den Menschen ermöglichte, sich in der Eiswelt aufzuhalten. Nach einem letzten Händedruck marschierte Carla hinauf Richtung Eisschloss und Rudi kehrte schweren Herzens um. Viel lieber hätte er Carla noch begleitet, doch auch er sah die Unmöglichkeit ein.
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