Die Last, die sie uns zu tragen gaben, war zu schwer für uns in diesem Alter. Wir mussten nicht nur diese Last tragen, uns selbst zu erziehen und die elterliche Verantwortung zu übernehmen, nein, wir mussten noch mehr tun. Das, was fast alle Kinder tun. Wir mussten unsere Eltern auch noch schützen. Wir mussten noch so tun, als ob sie Recht haben. Als ob alles toll war, damit sie sich als die tollsten Eltern fühlen konnten. Schlimmer noch, wir durften nicht zeigen, dass wir keine Ahnung hatten, was uns gut tut. Denn das würde heißen, dass wir versagt haben. Dass wir das Vertrauen unserer Eltern nicht verdient hatten. Sie wollten doch nur Gutes für uns tun. Wir trauten uns nie, ihnen etwas vorzuwerfen. Das taten wir übrigens bis jetzt nicht. Wir waren die Energiequelle unserer Eltern.
Es wurde dann langsam deprimierend, zu wissen und zu erkennen, dass wir alles allein nicht schaffen konnten und doch mussten. Es war für mich fast eine Schande, als ich dann merkte, dass ich doch jemand brauchte, der manchmal meine Hand hält. Dass ich noch ein Kind war und meine Eltern als Eltern brauchte. Es war für mich unerträglich, als ich die Grenzen meines „Ich“ erkannte. Ich habe doch versagt. Meine Eltern haben mich doch auf mich alleine gestellt, damit ich unabhängig von allen das erreiche, was ich möchte. Es tat weh zu sehen, dass nur auf mich zu hören, bestimmte seelische Schmerzen nicht lösen konnte.
Ja, wie gesagt, kam leider alles anders. Wir spürten immer mehr, wie eine Leere in uns ausbreitete und fingen sehr schnell an, uns mit exoterischen und astrologischen Themen zu befassen. Wir suchten woanders die Antworten, die uns unsere Eltern verweigern hatten. Unsere Verwirrung wurde immer größer, wie auch unsere innere Instabilität.
Meiner Schwester ging es immer schlechter und sie fing an, in Therapie zu gehen. Worüber sie denn dort sprach, hatte ich sie einmal gefragt. Sie antwortete: „Ich weiß es nicht, Jo.“ Sie war die einzige, die mich „Jo“ nannte. Ich liebte meine Schwester sehr. Wir liebten uns gegenseitig sehr. Wir brauchten diese Liebe als Halt, weil wir beide das Gleiche erlitten.
Meine Schwester ging immer weiter in dieser Richtung und probierte fast alles, was mit Esoterik zu tun hatte: Karten legen, Horoskope, Hellseher und vieles mehr. Aber alles brachte nur kurze Abhilfe, dann kam immer diese allgemeine Unzufriedenheit, von der man nicht wusste, woher sie kam. Sie war einfach da.
Du liebst dich selbst nicht, du fühlst dich unwohl, du bist hässlich, zu dünn oder zu dick.
Langsam folgte ich ihr auf diesem Weg auf der Suche nach dem, was mich glücklich machen würde. Fresssucht entstand und bei mir auch Sexsucht. Die Fresssucht hatte ich ein bisschen unter Kontrolle, meine Schwester aber überhaupt nicht. Sie aß und fraß wie der Teufel, nur um die nächste Woche wieder zu hungern, um die Pfunde wieder los zu werden.
Bei mir war es der Sex, durch den ich mich bestätigt fühlte. Darin dachte, dass ich Erfolg hätte. Da Gott mich bestens bestückt hatte und die Frauen weiß Gott warum darauf wie verrückt reagierten (auch wenn sie alle immer sagten, es kommt nicht auf die Größe an) wechselte ich die Frauen wie die Slips. Je älter, desto besser. Je ähnlicher eine Frau meiner Mutter sah, desto schöner fand ich sie. In solche Frauen war ich dann nicht verliebt, aber ich war abhängig von ihnen. Wenn ich so eine Frau hatte, wollte ich nicht mehr, dass sie weg geht. Ich habe an ihnen gehangen und geweint, wie ein kleines Kind, das Geborgenheit sucht. Leider zerstört gerade dieses Abhängigkeitsverhalten die Beziehungen und am Ende war ich doch wieder allein, allein mit meinem Kummer und mit der Einsamkeit.
Meine Eltern waren sehr viel unterwegs. Irgendwann fing auch unsere Mutter an, viel zu reisen. Sie meinte, wir wären schon groß genug und bräuchten gar keine Erwachsenen mehr. Außerdem gäbe es einen Chauffeur und ein Dienstmädchen zu Hause. Wir hassten diese Reisen. Jedes Mal, wenn sie zurückkamen, fragten wir uns schon, wann sie wieder gehen mussten. Es stresste uns sehr, in dieser Anspannung und dieser Angst zu leben. Wir freuten uns sehr, wenn sie wieder da war, aber die Freude verschwand wieder viel zu schnell, weil sie auch in Darmstadt weiter arbeiteten , jeden Tag bis in den frühen Abend hinein, und am Samstag waren sie oft auf verschiedenen Feiern, wo Leute, die dachten, sie wären ganz oben angekommen, sich trafen, um über New York, Johannesburg, Kairo, Peking, Montreal, Sidney und Prag zu reden, über Boote, das neue Haus, die neue Eroberung, das neue Kleid und ähnliches. Sie taten so, als ob alles wunderbar wäre, während ihre Kinder allein im Bett zu Hause lagen und weinten.
Zu Hause schien in der Familie alles gut zu laufen. Ich fragte mich aber immer öfter, was das für eine Art von Familienliebe ist, die mich als Mensch nicht befreien kann? Eine Liebe, die die Kinder nicht glücklich machen kann? Anscheinend ging es nur unseren Eltern gut. Ich und meine Schwester waren schon fast krank, innerlich unglücklich und unzufrieden, ohne wirklich zu wissen, warum.
Anne Schmidt unterbricht Herrn Walker
„ Herr Walker, haben Sie nicht gemerkt, dass es ihren Kindern schlecht ging?“
Herr Walker seufzte, biss sich auf die Lippen und sagte:
„ Sie haben ihre Gefühle verdammt gut versteckt. Vielleicht lag daran, wie er sagt, dass sie uns nicht beunruhigen wollten? Dass sie uns nicht zeigen wollten, dass wir versagt haben? Klar haben wir uns darüber unterhalten, meine Frau und ich. Aber wir dachten natürlich nicht, dass das etwas mit uns zu tun hätte. Wir dachten bei unserer Tochter an Liebeskummer oder so etwas in der Art, aber sonst haben sie uns immer vorgespielt, dass alles normal wäre. Sie machten uns Komplimente. Wenn Sie unterwegs waren und uns Karten geschickt haben, stand immer drauf, dass wir die liebsten Eltern der Welt seien. Es war ein Dilemma für sie. Sie haben uns schützen wollen, anstatt dass wir sie geschützt haben. Ja, es sollte aber andersrum sein, sie brauchten unseren Schutz. Vielleicht war es wirklich zu früh? Meine Frau wollte darüber aber nicht diskutieren. Sie wollte es so. Sie bestand darauf, die Kinder schon so früh in die Selbständigkeit und Selbstverantwortung zu schicken. Klar möchte ich mich selbst da nicht rausziehen. Es tut mir nur leid, durch ein Tagebuch so eine Sache zu erfahren, die man vielleicht gemeinsam hätte lösen können. Es tut mir im Herzen weh.“
„ Wollen Sie mal eine Pause machen? Oder ich kann gern auch weiter lesen“, schlug Anne Schmidt vor, als sie sah, wie schlecht es Herrn Walker sichtlich ging.
„ Nein, es ist schon okay. Ich möchte lieber selbst weiter lesen. Ich habe Angst, dass mich eine Pause dazu verleiten könnte, nachzudenken und meinen Mut zu verlieren, weiteres zu erfahren. Jetzt möchte ich aber da durch. Wenn Sie müde sind, können wir aber auch eine Pause machen“, antwortete er.
„ Nein, ich glaube, ich habe den gleichen Eindruck wie Sie, ich möchte alles wissen. Von mir aus können Sie weiter lesen. Ich habe Zeit“. sagte sie.
In der Familie lief alles prima, aber bei meiner Schwester und mir lief gar nichts. Richtige enge Freunde hatten wir wenige.
Wir versagten bei fast allem, was wir taten und fingen nun doch an, als Erwachsene an unseren Eltern zu hängen. Das machte mich noch unglücklicher. In diesem Alter lösen sich Kinder normalerweise von ihren Eltern, aber bei uns war das Gegenteil der Fall. Wir schämten uns sehr dafür. Sehr früh mussten und durften wir alles allein machen. Damals hingen unsere Freunde an ihren Eltern, die sich sehr um sie kümmerten. Wir machten uns darüber lustig, da sie immer eine Erlaubnis von Mama und Papa brauchten, um ins Kino zu gehen. Wir lachten sie aus, wenn sie sich beklagten, dass sie nicht ausgehen durften, bis sie ihre Matheaufgaben richtig gemacht hatten. Wir fanden es cool, mit 13 oder 14 auszugehen und nach Hause zu kommen, wann wir wollten, wenn unsere gleichaltrigen Freunde um 23 oder 24 Uhr zu Hause sein mussten. Wir machten uns darüber lustig, wenn Kinder, die nur eine Stunde länger draußen blieben, als es vereinbart worden war, von ihren Eltern angerufen wurden, um zu wissen, was los ist, ob etwas passiert sei. Aber insgeheim wünschten wir uns das auch. Ich spürte schon damals, dass ich diesen Schutz brauchte, um keine Angst zu haben.
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