„Schau mal hier, Johnny, mein Liebling, sind das nicht spannende Spiele da? Oh, das sind Computerspiele, was meinst du? Ich kaufe dir dann auch einen Computer.“
„Du brauchst eine neue Jacke, die hier sieht aus wie im Katalog, das willst du doch, oder?“ So ging dann immer weiter, ums Kaufen, Schenken, Geben und Haben. Aber ein neues Handy brauchte ich nicht. Mit wem sollte ich denn dann telefonieren? Ich war erst 10 und unter meinen Freunden verabredeten wir uns direkt nach der Schule. Wozu brauchte ich noch ein Handy? Ich hatte schon drei davon, noch unverpackt in meinem Schrank. Ich wollte kein Computer spielen. Ich wollte lieber mit ihm in der Orangerie verstecken oder Fußball spielen. Ich liebte Fußball sehr. Mit meinen Freunden traf ich mich oft in der Orangerie, um Fußball zu spielen. Manchmal waren ihre Papas mit dabei, meiner aber fast nie.
Da ich im Fußball gut war, wurde ich beim SV98 aufgenommen. Wir trainierten drei Mal die Woche und hatten am Wochenende mindestens ein Spiel.
Damit ich es einfacher hatte, wie meine Mutter zu mir sagte, wurde ein Auto gekauft und ein Chauffeur eingestellt, der mich ins Training und zu den Spielen am Wochenende fuhr. Nur wenige Male war mein Vater bei einem Spiel dabei.
Ich war traurig, während dem Spiel niemanden zu hören, der meinen Name rief und mich anfeuerte, wie es die anderen Mamas und Papas an der Seite ihrer Söhne taten.
Ich schämte mich ein bisschen, wenn in der Pause alle Eltern mit der Trinkflasche zu ihren Söhnen liefen, ihnen die Flaschen reichten und mit ihnen über das Spiel redeten, um sie aufzubauen.
Es war zum Kotzen, wenn ich nach dem Spiel niemanden hatte, der mir sagen konnte: „Hey Johnny, das war gut, das hast du gut gemacht, du hast den einen da gut ausgedribbelt, deine Flanken waren super!“ Oder auch mit mir schimpfte: „Da hast du Fehler gemacht, dort hättest du mehr kämpfen müssen, schieße nicht immer sofort!“
Ich fühlte mich sehr einsam und der Fahrer redete kaum mit mir. Er fuhr mich hin, verschwand und kam erst wieder, wenn das Spiel fertig war. Unterwegs hörte er seine Musik aus seinem CD Player. Wenn wir zu Hause ankamen, gab er mir die Schlüssel und verschwand. Er war ein Student aus Kamerun. Wir hatten nur eine einzige richtige Unterhaltung, es ging darum, wer der beste Spieler der Welt war. Er sagte Roger Milla aus Kamerun; ich dachte eher an Maradona.
Ich war glücklich, wenn ich zu den Spielen gehen konnte und unglücklich, wenn ich nach Hause kam. Meine Eltern fragten nur: „Wie war es? Habt ihr gewonnen?“ Wenn ich ja sagte, sagten sie auch „Das ist toll“ und fragten weiter, wie ich denn gespielt hätte. Ich antwortete: „Ich weiß es nicht“, und sie kommentierten weiter nicht. Wenn ich aber sagte, wir hätten verloren, dann kam die fast schematisch abgespulte Antwort: „Das ist normal, Verlieren gehört dazu. Man kann nicht immer nur gewinnen.“ Ich verschwand dann sofort wütend in mein Zimmer. War das alles, was sie mir zu sagen hatten?
Meine Mutter kam zu diesen Gelegenheiten in mein Zimmer und versuchte, mich wieder aufzumuntern.
Es klang für mich paradox, als meine Eltern mir sagten: „Johnny, wir sind stolz auf dich. Johnny, du machst das gut.“ Ich sagte mir, wie können sie behaupten, dass ich etwas gut mache, wenn sie gar nicht wissen, nicht sehen, was ich überhaupt mache? Sie versuchten immer, die Familie als etwas Besonderes darzustellen. Wenn wir zum Beispiel im Urlaub waren, klang es in meinen Ohren fast zynisch, wenn sie sagten: „Wir haben es schön, wir sind doch eine glückliche Familie, wir haben es geschafft, wir können uns alles leisten und wir haben zwei tolle Kinder. Wir müssen auf uns alle stolz sein.“ Bei solchen Komplimenten an uns selbst versuchten Mia und ich auch zu lachen und am Ende waren wir fast überzeugt, dachten wir, dass wir auch doch eine gute Familie waren.
Damals schien es toll, so früh solche Freiheit zu haben. Wir durften alles tun, was wir wollten. In der Schule mussten wir nur die Fächer wählen, die uns gefielen. Ausgehen durften wir, wann wir wollten, mit wem wir wollten. Wir kamen nach Hause, wann wir wollten. Wir waren unabhängig.
Heute sehe ich die Sache total anders. Wir waren noch nicht so weit. Diese verfrühte Unabhängigkeit und Verantwortung zu tragen hat uns mehr Schaden zugefügt, als es uns geholfen hat.
Herr Walker hörte auf zu lesen, schaute nach Anne Schmidt und sagte exklamatorisch: „Aber wir dachten immer, sie freuten sich, das zu tun, was die anderen nicht durften. Das war für uns ein Zeichen, dass wir ihnen vertrauten. Wir wollten, dass sie selbst für sich Entscheidungen treffen konnten und früh erkannten, was sie wollen und was sie nicht wollen, dass sie schon sehr früh ihren Weg erkennen können!“
„ Haben Sie sie jemals nach ihrer Meinung gefragt, ob sie das überhaupt wollten? Diese frühe Verantwortung zu tragen?“, fragte Anne.
„ Wir dachten, es tut ihnen gut“, antwortete Herr Walker leise und las weiter.
Sie meinten immer, dass sie uns vertrauen und dass wir groß genug seien, um allein zu entscheiden, was euch gefällt oder nicht. Somit hatten sie den Druck auf uns abgeladen und ihr eigenes Leben leichter gemacht. Es war doch einfacher für sie, sich auf die Couch zu legen, Fernsehen zu schauen, Zeitungen zu lesen oder zu telefonieren, als sich um die Hausaufgaben zu kümmern. Es war so viel bequemer für sie, als mit uns zu streiten und uns zu zwingen, zu überzeugen, dass wir doch dies oder jenes machen müssten. Es war erholsamer für sie, sich keine Sorgen über uns machen zu müssen, wenn wir zu spät nach Hause kamen. Nein, sie lagen zufrieden im Bett und schliefen.
Sie hatten sich wirklich ein gutes Alibi für ihr Gewissen ausgesucht. Freie Erziehung. Aber diese brachte nur ihnen etwas uns zerstörte langsam, ganz langsam aber ganz sicher unser Leben.
Nein, ich hätte es anders gewollt. Klar, dass sich jedes Kind über ein Geschenk freut. Es ist für einen Jugendlichen etwas Besonderes, auszugehen und nicht so früh nach Hause kommen zu müssen. Aber es wird zu einer Last, wenn du den Eindruck hast, dass sich niemand Sorgen um dich macht. Etwas konnte dir etwas unterwegs passiert sein und deine Eltern liegen ruhig zu Hause und schlafen.
Ich provozierte oft, damit man mir meine Grenzen aufzeigte. Nichts kam zurück, immer wurde nur die Liebe betont. „Johnny, ich vertrau dir, mach, was du glaubst, was gut für dich ist.“ Ich wurde innerlich immer wütender und fragte mich, ob Eltern nur dazu da sind, um uns finanziell abzusichern? Um uns ein Dach über den Kopf zu geben? Uns Essen zur Verfügung zu stellen? Ich fragte mich Tag und Nacht, was denn die Verantwortung von Eltern sei. Warum müssen wir, die Kinder, in diesem Alter alles tragen? Warum müssen wir für uns allein entscheiden? Handeln? Wenn wir nach einem Rat fragten, kam immer nur die gleiche Antwort: „Höre in dich und tu das, von dem du glaubst, dass es dir gut tut“. Wie viele Mal standen wir mit 14, 15, 16 da und wussten nicht, was uns gut tun würde?
Aber damals waren wir auch stolz, muss ich zugeben. Wir waren stolz, dass wir liebe Eltern hatten, die uns vertrauten und uns die ganze Freiheit überlassen haben.
Heute sage ich nur, dass es gut war, aber diese Freiheit, diese Demokratie und Unabhängigkeit muss gelernt werden. Sie muss nach und nach übergeben werden. Zu spät ist schlecht, zu früh aber auch. Bei uns war es zu früh und wir haben es nicht verkraftet. Wir waren zu früh auf uns allein gestellt, ohne Schutz. Wie sehr wünsche ich mir jetzt, dass ich Gott gekannt hätte? Irgendetwas, das mir in der Zeit, in der ich nicht wusste, wie es mit mir weiter geht, mir zur Seite gestanden hätte. Mich einfach anpackt hätte und nicht nur sagte: „Du schaffst es, tu, was mit dir stimmig ist.“ Etwas , was einfach mir genau sagte, was ich tun sollte, wenn ich keine Ahnung mehr hatte, wie es weiter geht. Ein Gott, bei dem ich wusste, er würde mich jetzt mich schützen, wenn ich angegriffen werde. Er würde die Angreifer verjagen, wenn ich in Gefahr wäre. Einer, von dem ich mir zu 100% sicher sein konnte, dass er über mich wachte.
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