»Warte!«, Paola zog ihr telefonino aus der Tasche.
»Ja, habe ich! Ich schick dir die Nachricht weiter.«
Im nächsten Moment hörte man ein Piepsen, Maria Nero schaute auf ihr telefonino und sagte:
»OK. Alles da. Perfetto ! Ich fahre los und wir sehen uns im Krankenhaus.«
»So machen wir das. Ich rufe mal schnell Francesco an und sage ihm, dass es länger dauert als gedacht…«, erwiderte Paola.
Ispettore Maria Nero verabschiedete sich vom Ehepaar Angelo und winkte ihrer Kollegin beim Verlassen der Wohnung zu. Paola rief bei Francesco an. Nach dem Gespräch lief sie zurück in die Küche. Die Eltern standen engumschlungen und man sah, dass beide emotional am Ende waren. Bei jedem Schluchzen vibrierten die Körper der beiden. Paola räusperte sich und klopfte an den Türrahmen. Sofort ließen sie einander los und schauten Commissario Rossi traurig und verweint an.
»Wollen wir losfahren?«, fragte Paola.
Beide nickten ihr zu. Händchenhaltend gingen sie langsam aus ihrer Küche und man sah ihnen an, wie viel Angst und Sorge sie vor dem Besuch im Krankenhaus hatten.
»Commissario, bitte tun Sie alles, was in ihrer Macht steht, um den Täter zu schnappen. Sie können uns alles fragen, wir wollen Gerechtigkeit für unseren Engel.« Der Vater machte einen entschlossenen Gesichtsausdruck, als er dies sagte.
»Ich verspreche Ihnen beiden, ich werde alles in meiner Macht Stehende unternehmen, um den Täter zu überführen. Ich danke Ihnen für ihre Zusammenarbeit. Lassen Sie uns jetzt gehen.«
Paola ging voraus.
Die Eltern des Mädchens gingen sehr gekrümmt und man sah ihnen ihr Leid in jeder Faser ihres Körpers an. Zum Glück stand Paolas Wagen in einer Seitenstraße und sie mussten nicht an dem eigentlichen Tatort vorbei. Sie öffnete die Türen des Autos und die beiden nahmen Platz.
Paola fuhr los.
Eine ungeheure Stille machte sich breit.
Paola verbannte den Gedanken, den Eltern weitere Fragen zu stellen. Das würde sie am nächsten Tag machen. Das Wichtigste hatte sie bereits notiert. Nach einer kurzen Fahrt kamen sie am Krankenhaus an. Paola schaute auf ihr Display und suchte die Nachricht heraus. Dann gingen sie alle drei zum Fahrstuhl und fuhren in den dritten Stock. Als die Fahrstuhltür sich öffnete, sah Paola am Ende des Gangs ihre Kollegin stehen, die mit einem Arzt redete. Sie beschloss kurzerhand, die Eltern des Opfers in einer kleinen Nische Platz nehmen zu lassen. Dort standen ein paar Stühle. Sie deutete mit dem Finger auf ihre Kollegin und sagte zu Signora und Signor Angelo:
»Warten Sie bitte einen Moment hier. Ich spreche nur kurz mit meiner Kollegin und hole Sie gleich ab.«
Mario Angelo nickte, er umfasste die Hand seiner Frau und zog sie an den Stuhl heran. So saßen die beiden und schauten Paola hinterher.
» Ciao , Maria! Buonasera, Pierluigi! Come stai ? Bist du der behandelnde Arzt von Clarissa Angelo? Ihre Eltern sind da!«
Paola drehte sich in die Richtung der wartenden Eltern um.
» Ciao , Paola, das ist schön dich zu sehen, wenn auch der Umstand schrecklich ist!«
Er drückte ihre Hand und gab ihr erst einen Kuss auf die linke und dann auf die rechte Wange.
Dottore Pierluigi Manzoni war ein Kollege von Francesco, ihrem Mann, und ebenfalls Chirurg.
»Können die Eltern zu ihrer Tochter?«
Pierluigi drehte seinen Kopf, kniff die Lippen zusammen.
»Aber nur kurz. Es geht ihr sehr schlecht. Wir wissen noch nicht, ob sie es schaffen wird.«
Paola schaute besorgt.
»So schlimm?«
Pierluigi machte durch seinen Blick keinen Hehl daraus und sagte nur:
»Schlimmer!«
»Können wir gleich reden? Ich will die Eltern nicht länger warten lassen. Die beiden gehen gerade durch die Hölle.«
Paola sah ihn flehentlich an.
»Ich komme mit und bereite die Eltern auf den Anblick vor.«
» Madonna !«, entwich es Paola.
Dottore Manzoni schritt voran und stellte sich dem Ehepaar Angelo als behandelnder Arzt vor. Er erzählte kurz und knapp, dass ihre Tochter notoperiert wurde, sehr viel Blut verloren hatte und eventuell noch weitere Operationen anstehen könnten, doch jetzt müsse man erst einmal die Nacht abwarten. Sie sei sehr schwach. Die genauen Umstände wollte der Arzt ihnen später in einem Gespräch mitteilen.
Signora Angelo hielt sich die Hand vor den Mund und probierte ihre Tränen herunterzuschlucken. Ihr Mann versuchte gefasst zu bleiben, aber man sah ihm an, wie er mit seinen Emotionen kämpfte. Die Eltern machten sich auf den Weg zum Krankenzimmer, ihr Gang war verhalten. Beide mussten einen Kittel, Überschuhe und einen Mundschutz anziehen, erst dann öffnete Dottore Manzoni leise die Tür und ließ sie hinein.
Dottore Manzoni kam heraus und drehte sich zu Paola und Maria um.
»Paola versprich mir, dass du den Kerl schnappst und hinter Schloss und Riegel bringst. Das arme Mädchen! Sie hat durch die beiden Stichverletzungen im Bauchraum, so viel Blut verloren und sowohl die Milz als auch der Darm wurden verletzt. Sie muss sich stark gewehrt haben, dass sieht man an den Abwehrverletzungen bei ihr und an der erheblichen Kopfverletzung, die sie sich zugezogen hat. Ich sag es jetzt mal nicht im Fachchinesisch. Ihre Milz ist gerissen. Ein Stück des Darms war verletzt. Wir haben sie notoperiert, mussten ihr mehrere Blutkonserven verabreichen. Durch die starke Kopfverletzung hat sich ein Aneurysma entwickelt. Wir haben sie jetzt erst einmal ins künstliche Koma gelegt, damit sich die Ausdehnung im Gehirn, hoffentlich zurückbilden kann. Wenn das Mädchen diese Nacht übersteht, dann hat sie eine Chance. Wir wissen aber noch nicht, inwieweit die Kopfverletzung bleibende Schäden verursacht haben könnte. Als wir den Bauchraum geöffnet haben, hatten wir sie kurzfristig schon verloren, aber wir haben alles unternommen, um sie zurückzuholen. Sie hat so viel Blut verloren, wer auch immer sie gefunden hat, ein paar Minuten später und sie wäre bei euch in der Gerichtsmedizin gelandet.«
Paola wurde schlecht, das lag nicht nur an ihrem leeren Magen, sie stellte sich vor, wie furchtbar dieses Erlebnis für Clarissa gewesen sein mochte und welche Schmerzen sie davongetragen haben musste.
Pierluigi sah sofort ihre Gedankengänge.
»Paola, wir passen auf sie auf! Sie bekommt Schmerzmittel und wir haben sie engmaschig in der Beobachtung!«
Paola schaute ihn nachdenklich an.
Zu Maria gewandt sagte sie: »Sorge dafür, dass ein Beamter vor dem Zimmer bleibt und sie bewacht. Leider wissen wir nicht, ob der Täter es dabei belässt. Uns fehlen noch wichtige Anhaltspunkte.«
Ispettore Nero sah ebenfalls stark ergriffen aus und hatte bereits alles veranlasst. Der erste Beamte holte sich gerade einen caffè und müsste in ein paar Minuten wieder vor dem Zimmer patrouillieren.
»Gut, Maria! Der nächste Dienst ist auch schon eingeteilt?«
»Ja, wir haben alles organisiert. Sie wird rund um die Uhr bewacht.«
»Sehr gut!«, sagte Paola.
Читать дальше