Eine Turmuhr hatte die zehn Uhr geschlagen, als eine große Horchlimousine vor dem Bahnhofseingang stand. Eckhard Hieronymus fragte den wartenden Fahrer in schwarzer SS-Uniform, ob er von der Standortkommandantur Ost komme. Der Fahrer bejahte und sagte, dass er vom Obersturmführer Dorfbrunner geschickt sei, um den Namensvetter aus Breslau mit Frau und Tochter und drei Koffern abzuholen. “Der Namensvetter bin ich, und das ist meine Frau”, sagte Eckhard Hieronymus. Der junge SS-Mann stieg aus der Limousine, nahm Haltung an und grüßte militärisch, wobei die Kuppen der gestreckten Finger der rechten Hand die rechte Stirnseite berührten. “Kann ich ihnen behilflich sein?”, fragte er in freundlicher Weise, nachdem er die militärische Haltung aufgegeben hatte. Der SS-Mann folgte den beiden zum Wartesaal.
Anna Friederike blickte aus ihrem “Wallenstein” auf, als die Eltern vor ihr standen, und erschrak, als sie den Mann in der schwarzen Uniform hinter ihnen stehen sah. Ihr Gesicht erblasste wie vom Blitz getroffen. Der SS-Mann grüßte sie freundlich: “Sie lesen Schillers “Wallenstein”. Der gehörte mit “Don Carlos” zu meiner Lieblingslektüre in der Oberprima.” Zum ersten Schreck kam nun bei Anna Friederike die Verwunderung hinzu, weil sie das mit der Lektüre von einem SS-Mann nicht erwartet hatte. Eckhard Hieronymus und Luise Agnes gingen mit ihren Koffern und Taschen voraus, und Anna Friederike und der SS-Mann, der Friederikes Koffer trug, folgten. Die Koffer wurden im geräumigen Kofferraum verstaut, und der SS-Mann öffnete den Frauen die Hecktüren und schloss sie, während Eckhard Hieronymus das Einsteigen vorn allein bewältigte. Die Limousine passierte den Wachposten ohne anzuhalten und fuhr in einen großen Hof, auf dem andere Limousinen standen. Der SS-Mann führte die Breslauer in einen Raum, der mit einem Perserteppich ausgelegt und mit barocken Möbeln, einer großen, mit Gläsern gefüllten Vitrine und schwarzen Ledersesseln und einer dreisitzigen Ledercouch bestückt war. An der Wand hing das Großfoto des Reichsführers der SS in Farbe neben drei szenisch überladenen Landschaftsbildern in Öl der Dresdner Schule. Die fotografische Gegenwart des Bleichgesichtes mit den Zügen eines beengten Pedanten wirkte abstoßend. Die drei Koffer wurden vor dem Raum abgestellt.
Ein Hüne von Mann in weißem Hemd mit offenem Kragen, runtergezogenem Knoten des schwarzen Schlipses und schwarzer Uniformhose betrat den Raum und ging lachend auf Eckhard Hieronymus mit den Worten zu: “Dann bist du der Breslauer Dorfbrunner, der Akademiker für den lieben Gott.” Sie gaben sich die Hand. “Ich bin Reinhard Dorfbrunner, und das sind deine Frau und Tochter.” Eckhard Hieronymus, der einen Kopf kürzer war, stellte dem Hünen mit den blauen Augen und dem blonden Haar Luise Agnes und Anna Friederike vor. “Setzt euch! Erwin, hol den Champagner oben aus dem Eisschrank!” Erwin, der Fahrer, verließ den Raum, und die Dorfbrunners verteilten sich auf die Sessel, und Luise Agnes und Anna Friederike setzten sich auf die Couch. “Wie hast du so schön wie ein rechter Akademiker gesagt: Der alte, mehrere hundert Jahre alte Stammbaum der Dorfbrunners wurzelt tief in Pommritz. In seiner Krone ist er weit verzweigt. So sitze ich nun dem Breslauer Dorfbrunner mit Frau und Tochter gegenüber, von dem ich in meinem Leben noch nie etwas gehört habe.”
“Wenn ein Baum so alt ist, und die verzweigten Äste so weit ausladen, ist es doch für einen Dorfbrunner unmöglich, alle anderen Dorfbrunners zu kennen”, erwiderte Eckhard Hieronymus. Der Hüne Dorfbrunner lachte: “Dann kann es auch sein, dass wir in Südamerika Verwandte haben. Nach denen sollten wir suchen und mit ihnen Kontakt aufnehmen, damit wir wissen, wo wir hingehen können, wenn es hier zu brenzlig wird.” Der SS-Offizier brachte die Flasche gekühlten französischen Champagner. Er holte vier Sektgläser aus der Vitrine und stellte sie auf den Klubtisch. Der Obersturmführer öffnete die Sektflasche mit Bravour, ließ den Korken gegen die Decke knallen, sagte lachend: “der schoss ja in die Luft wie eine V-Rakete nach London”, und füllte die Gläser. Im Nachgang sagte er: “Da war Power hinter. Die könnten wir jetzt gut gebrauchen, um die russischen Panzer wie Fliegen abzuknallen.”
Da legte sich sein Lachen. Die Breslauer sahen auf die Gläser und folgten den eigenen Gedanken. “Prost! Trinken wir auf die Dorfbrunners, auf den alten Stammbaum mit den tiefen Wurzeln in Pommritz und auf ihr dickes Blut!” Der Hüne Dorfbrunner leerte sein Glas und füllte es nach: “Sag mal, du Breslauer Dorfbrunner, du hast ja bei deinen Vornamen noch einen Heiligen drin, ich meine den Hieronymus. War denn dein Vater auch schon ein Akademiker für den lieben Gott?” “Von Beruf nicht. Er war Studienrat für Geschichte und Geographie.” Der Hüne blickte zum Namensvetter und griff nach dem Sektglas: “Das hört sich schon besser an. Ich hatte auf der NAPOLA in Grimma auch einen Lehrer Dorfbrunner, der Deutsch und Geschichte unterrichtete. Er war durch seine unerbittliche Strenge gefürchtet.” “Dann warst Du auf der Schule, die früher die Fürstenschule war, in die auch Lessing ging.” “Welcher Lessing?” “Der Kamenzer Gotthold Ephraim Lessing.” “Ach der. An den kann ich mich noch dunkel erinnern, weil wir in der Oberstufe dessen ‘Nathan’ lasen und ihn im Klassenaufsatz unter dem Thema: “Die Profitsucht der Juden und das arbeitende deutsche Volk” zu interpretieren hatten.” “Er war immerhin ein großer Dichter”, fügte Eckhard Hieronymus hinzu. Darauf erwiderte der Hüne Dorfbrunner: “Das kann ich nicht beurteilen. Dafür fehlt mir der Vergleich. Was ich dir aber sagen kann, dass ein Dichter, der den Nathan auf einen so hohen Stuhl setzte und selbst den Ephraim im Vornamen hatte, arisch nicht rein war. Zugegeben, dass zu seiner Zeit, es war das frühe achtzehnte Jahrhundert, stimmt’s?”, Eckhard Hieronymus nickte, “die Kenntnis über die Notwendigkeit der völkischen Rassentrennung unter Beachtung der hygienischen Gesichtspunkte noch nicht so weit vorangeschritten war.”
Luise Agnes machte einen betrübten Blick, und Eckhard Hieronymus gab den Blick der Entschuldigung zurück. Der Hüne Dorfbrunner nahm nun den Namenvetter ins Visier: “Sag mal, du Breslauer Akademiker für den lieben Gott mit dem Heiligen im Namen, war es nicht schwer, bei den Menschen für den lieben Gott zu werben?” Eckhard Hieronymus spürte die sarkastische Spitze: “Was meinst Du, für den lieben Gott werben? Du weißt es doch, so alt der Stammbaum der Dorfbrunners ist, so lange wissen seine Namensträger, dass der liebe Gott keine menschliche Werbung braucht. Darauf ist er nicht angewiesen. Angewiesen ist dagegen der Mensch auf seinen Trost und seine Gnade und das auch, als in Breslau die ersten russischen Panzergranaten einschlugen und wir im Zug saßen und darauf warteten, dass er den auf die Stadt gerichteten Kanonenrohren noch rechtzeitig davonfuhr.” Hüne Dorfbrunner machte ein beklommenes Gesicht. Waren doch die Fakten stärker als die hakenkreuzige Propaganda der hitlerisch gestiefelten Schwell- und Schreiköpfe mit den hinterher marschierenden stumpfgesichtigen braunen und andersartig uniformierten Kolonnen.
Als das Gespräch unter den Dorfbrunners auf die wehrlosen Menschen und die Brutalität des Systems einzumünden drohte, schaute der Obersturmführer auf die Uhr und zog die ‘Notbremse’: “Ihr habt doch lange nicht mehr vernünftig gegessen. Ich lade euch zum Mittagessen ein. Es ist schon ein Uhr vorbei. Wir müssen uns beeilen. Heute gibt es Ochsenschwanzsuppe und Schweinskotelett mit Bratkartoffeln und Gemüse. Die gute deutsche Küche ist uns doch noch geblieben. Trinken wir auf die Dorfbrunners und ihr dickes Blut!” Der Hüne leerte sein drittes Glas, während die Breslauer mit den leeren Mägen noch beim ersten Glas saßen. “Lasst uns den Rubikon überschreiten und zum Speiseraum gehn”, sagte er und erhob sich aus dem Sessel, wobei die Hünenhaftigkeit zur vollen Geltung kam. Reinhard Dorfbrunner ging voraus, und die Breslauer folgten. Sie betraten den Speiseraum, wo von den sechs Tischen einer für den Obersturmführer und seine Gäste reserviert war. An den fünf anderen Tischen saßen die SS-Männer, an einigen Tischen in Gesellschaft junger aufgeputzter Frauen in weißen Blusen und schwarzen Röcken. Der Obersturmführer wurde beim zügigen Vorbeigang an den Tischen von seinen Leuten respektvoll gegrüßt. “Na Jungens, schmeckt es heute?” Wie auf Kommando kam es im Chor: “Jawoll, Obersturmführer, heute schmeckt es gut!” “Dann ist es gut, denn ich kann euch nicht sagen, wie lange es noch schmecken wird.” Die jungen SS-Leute, von denen einige die Gesichter unerfahrener Jungen hatten, die gestern noch bei der Hitlerjugend waren und ihr Kriegsabitur abgelegt hatten, lachten, als hätten sie vor den anrückenden russischen Armeen keine Angst.
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