Es war fort.
Ungläubig schaute ich mir die Augen aus dem Kopf. Mein erster Gedanke galt dem Naheliegendsten: Die Taue hatten sich aus irgendeinem Grund gelöst, und die Gezeiten das ungesicherte Boot aus dem Kanal hinaus in die Bucht gezogen. Es konnte also nicht weit sein, musste irgendwo in der Nähe angetrieben liegen. So dachte ich. Wie gehetzt jagte ich das Kliff hinunter an die Küste, halb erwartend, mein Boot irgendwo in der Nähe auf den Wellen hüpfen oder zumindest angespült zu sehen. Aber es war nicht da. So sehr ich auch suchte, es blieb verschwunden.
Krister hatte sich inzwischen auf eine Klippe geschwungen, die einen guten Blick über die gesamte Bucht ermöglichte. Flehentlich sah ich zu ihm empor, auf ein positives Signal wartend, einen ausgestreckten Arm, der auf die See zeigte, einen Schrei, irgendetwas. Doch er stand schon viel zu lange reglos suchend da. Mein verzweifelter Blick fiel auf Luke, der wie ein Häufchen Elend auf den Kanal starrte, als befände sich unser Gefährt versunken auf seinem Grund. Mein Magen begann zu realisieren, was geschehen war. Er brannte wie Feuer. Warum sprach niemand ein Wort? Wieso holte mich niemand aus diesem furchtbaren Traum?
„Wo ist es?“ rief ich endlich laut aus. „Wo ist das Boot?“
Ich drückte mich an einem immer noch in den Kanal gaffenden Luke vorbei und untersuchte die Felsen, an denen es vertäut war. Keine Spur von den Tauen. Nirgendwo. Ich lachte irr.
„Das gibt es nicht! Ich würde ja einsehen, wenn sich ein Tau warum auch immer gelöst hätte. Das kommt vor. Aber beide? Unmöglich!“ Mir fielen die Geräusche der letzten Nacht ein. War ich nicht wach geworden, weil ich glaubte, Schritte gehört zu haben?
„Jemand muss das Boot gestohlen haben, als wir schliefen!“ rief ich Krister zu, der niedergedrückt angetrottet kam.
„Nein, das glaube ich nicht“, meinte er nach kurzer Überlegung. „Hier ist außer uns niemand.“
„Aber ich habe Schritte gehört heute Nacht!“ beharrte ich. Luke sah mich von der Seite an, bevor er den Blick wieder abwandte. „Hast du auch Schritte gehört, Luke?“
Er schüttelte den Kopf, ohne mich wieder anzusehen. „Das schöne Boot“, sagte er stattdessen tonlos. Ich verachtete ihn dafür, schon resigniert zu haben. Oh nein, so schnell nicht. Nicht mit mir!
Ich rannte los, die Bucht hinunter. Krister rief mir etwas hinterher, was ich nicht verstand. Vielleicht wollte ich auch nur nicht verstehen. Fest entschlossen, jeden Winkel in der näheren Umgebung abzusuchen, machte ich mich ans Werk. Aufgeben kam nicht in Frage!
Wir suchten bis in den Nachmittag hinein. Vergeblich. Irgendwann sank ich erschöpft nieder, bereit, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Es war fort, verschwunden, verloren. Das Boot war nicht mehr.
Tiefe Resignation machte sich breit und erfüllte mein Inneres bis in den letzten Winkel. Bittere Tränen verschleierten meinen Blick, als ich das komplette Scheitern der ganzen Unternehmung ahnte.
Welch ein Idiot ich doch war!
Wie bescheuert, zu glauben, ein paar lumpige Träume und Ahnungen würden mir den Weg zu Rob zeigen. Ich hatte mich und die anderen nur unnötig in Gefahr gebracht. Nun war auch noch das Boot verloren. Gerade diese Tatsache traf am härtesten. Hatte ich Luke nicht extra mitgenommen, damit er es sicher wieder nach Hause bringen konnte, falls ich Vollidiot meinen Bruder entgegen aller „Visionen“ nicht in Hyperion auffand? Oh, wie dumm und naiv mir die Überzeugungen von gestern jetzt im Licht der knallharten Realität vorkamen. Mein Vater hatte voll und ganz Recht gehabt. Nur ein Wahnsinniger würde aufgrund eines simplen Verdachts das Tabu brechen wollen. Ganz so weit war es ja nun nicht gekommen. Nicht einmal in die Nähe des Tabus hatte ich es geschafft.
Lange Zeit saß ich einfach nur da, mit leerem Blick auf die Tethys hinausstarrend, unfähig, meinen Gedanken eine neue Richtung zu geben. Nur eine Überzeugung setzte sich allmählich durch: es war vorbei. Selbst wenn wie durch ein Wunder das Boot nun direkt vor mir auftauchte, ich hätte die Reise in diesem Moment nicht mehr fortsetzen können.
Nach der Rückkehr ins Lager teilte ich den anderen meinen Entschluss mit. Einen Lidschlag lang sah es so aus, als wollte Krister widersprechen. Dann nickte er nur stumm. War er bereits zu ähnlicher Erkenntnis gekommen, fürchtete sich aber davor, sie zu offenbaren?
„Das beste wird sein, wir schlagen uns durch die Wälder nach Westen in Richtung Lake Sawyer durch“, sagte ich ganz pragmatisch. „Irgendwann müssen wir auf die alte Straße treffen, die von Wynyard nach Van Dien führt. Von dort aus ist es ein Kinderspiel. Ich hoffe nur, das Hügelland hier ist einigermaßen passierbar. Wir werden ja sehen. Es bleibt uns auch nichts anderes übrig.“ Ich versuchte, entschlossen zu wirken, was bei weitem nicht der Fall war.
Luke hatte der Entwicklung bisher wortlos und mit gesenktem Blick beigewohnt. Doch jetzt, wo die Rückkehr feststand, meldete er sich zu Wort. Mit unerwartetem Einsatz.
„Was ich da höre kann ich einfach nicht glauben“, sagte er kopfschüttelnd. „Du willst also wirklich aufgeben, ja? Einfach so. Nur weil es einen Rückschlag gab? Ich dachte bisher, es ging um deinen Bruder, Jack, und nicht um ein Boot.“
Er traf eine mächtig verwundete Stelle. „Sei still! Du weißt nicht, was du sagst.“
„Ach?“ Zu meinem Befremden grinste er, was mich nur noch mehr gegen ihn aufbrachte. „Ich glaube eher, du bist derjenige der nicht weiß was er sagt. Mit dem Boot steht und fällt also das Ganze. Interessant. Soviel ich weiß, wolltet ihr anfangs bis Hyperion laufen. Dann erst kam die Idee, den Seeweg zu nehmen. Soweit so gut. Warum gehen wir jetzt nicht einfach zu Fuß weiter?“
Ich wünschte mir dringend, Krister würde seinem Stiefbruder den Mund verbieten. Doch er tat es nicht. Wollte er am Ende die Diskussion über den Umweg Luke weiterführen?
„Es ist entschieden“, resümierte ich müde. „Wenn du nach Hyperion gehen magst, dann geh. Ich halte dich nicht auf. Und jetzt Schluss damit! Ich will nichts mehr hören!“
Kraftlos erhob ich mich. Luke sah herausfordernd herüber. Auf seinen Lippen lagen eine Vielzahl Worte, die er sich wohlweißlich verkniff. Jedoch war es der Spott in seinem Gesicht, der mich am meisten verwunderte. Wieso setzte er sich so vehement für die Fortführung der Reise ein? Sie hätte für ihn unter normalen Umständen sowieso in wenigen Tagen geendet. Das machte alles wenig Sinn... und ich verfügte momentan nicht über die Kraft, mir darüber auch noch den Kopf zu zerbrechen.
Mutlos entfernte ich mich wie ein gebrochener Mann von meinen Gefährten, wollte alleine sein. Den Rest des Tages verbrachte ich an einem geschützten Platz an der Wasserlinie, apathisch auf das Meer hinausschauend. Ein nicht unterzukriegender Teil in mir erwartete immer noch, das Boot jeden Augenblick irgendwo auf den Weiten der See zu erblicken. Das Loslassen gestaltete sich äußerst schwierig. Noch war ich nicht völlig bereit dazu.
Krister und Luke verstanden meine Verzagtheit und ließen mich in Ruhe. Irgendwann am frühen Abend gewahrte ich Krister neben mir. Der Gute brachte etwas zu essen, größtenteils Reste vom vergangenen Tag, aus einer Zeit, die mir so viel unbeschwerter erschien. Warum verdammt noch mal klammerte ich mich so sehr an das Boot? Wieso gelang es nicht, die Tatsachen hinzunehmen und nach vorne zu sehen? Weswegen machte ich es mir selbst so schwer?
„Du musst etwas essen.“ Ich sah kurz zu ihm hoch und bedankte mich leise, während er in die Hocke ging. „Ich wollte dir sagen, wie sehr es mir um das Boot leid tut. Ich gebe mir einen beträchtlichen Teil der Schuld an seinem Verschwinden.“
Das überraschte. „Aus welchem Grund?“
„Immerhin bin ich es gewesen, der dich gestern Abend drängte, es in diesem Kanal festzumachen.“ Er wich meinem Blick aus. „Womöglich hätten wir eine bessere Anlegestelle gefunden, wenn ich nur geduldiger gewesen wäre.“
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