„Ich bring dich zu ihnen. Aber vorher solltest du dir etwas Wärmeres anziehen. Es ist kalt.“ Sie öffnete eine große Schublade unter Kellens Bett. Der Häuptling staunte. Er hätte überall nach seinen Sachen gesucht, aber zuallerletzt direkt unter seinem Lager.
Larinil schien Kellens Verwunderung zu amüsieren. Lächelnd stand sie auf.
„Hier findest du alles, was du brauchst. Ich warte draußen.“
Anders als die meisten in seinem Volk hatte Kellen keine Schwäche für bunte Kleider. Er trug normalerweise Hemd und Hose aus grobem Stoff und einen Umhang aus Wolle. Wenn überhaupt, dann ließ er die Sachen schwarz oder dunkelbraun färben. Und sogar das Kastenmuster auf seiner Hose, das seinen Status verriet, war schlichter als üblich. Kellen mochte Eitelkeit ebenso wenig wie Prahlerei und Machtgehabe. Als Häuptling wollte er in seinem Dorf wegen seiner Taten respektiert werden und nicht, weil er aussah und sich benahm wie ein Pfau.
Ob er die Kleider mochte, die er jetzt trug, war ihm deshalb noch nicht so ganz klar. Hemd und Hose waren weit geschnitten, dunkelblau und aus einem ähnlich dünnen Stoff wie Larinils Kleid. Er fand feste, schwarze Stiefel, die bis knapp unter die Knie reichten, und einen langen, schwarzen Umhang. Die Kleider waren federleicht, aber trotzdem robust und erstaunlicherweise auch warm. Zu seiner Erleichterung hatte Larinil ihm seine bronzene Mantelspange, sein Schwert und den dazugehörigen Gurt gelassen. Kellen war dankbar dafür, auch etwas Vertrautes gefunden zu haben. Und mehr noch: Dass sie ihm die Waffe gelassen hatte, sprach dafür, dass er hier kein Gefangener war. Dem Häuptling war klar, dass dies absichtlich geschehen sein musste. Vielleicht, um sein Vertrauen zu gewinnen. Andererseits: Bewaffnet oder nicht - hatten diese Wesen wirklich etwas von ihm zu befürchten? Kellen erinnerte sich an den Kampf am Bachlauf. Larinil tötete schneller als einer ihrer Feinde das Wort „Gnade!“ hätte sagen können. Oder waren das etwa doch Trugbilder gewesen, geschuldet dem Umstand, dass Kellen dem Tod näher gewesen war als dem Leben?
Larinil stand an einer Brüstung zwischen zwei Säulen. Als er auf sie zukam, musterte sie ihn zufrieden. Ganz so, wie jemand, der mit einem vollendeten Werk zufrieden war. Kellen fühlte sich unwohl. Blaue, feine Kleider kamen einem Pfau ziemlich nahe.
„Du siehst stattlich aus, Häuptling Kellen“, sagte Larinil schmunzelnd. „Ich hoffe, auch du bist mit den Kleidern zufrieden, die ich für dich gewählt habe.“
Kellen kämpfte einen leichten Anflug von Zorn nieder. Der Gedanke daran, dass eine fremde Frau bestimmte, welche Sachen er trug, war ihm fremd.
Mühsam brachte er ein „Natürlich“ hervor und beließ es dabei. Die Sorge um sein Aussehen war längst nicht so groß wie seine Neugier.
Kellen wollte Galandwyn kennenlernen, die weiße Burg in den Bergen. Er trat neben Larinil und hatte nun einen freien Blick in den Hof. Der Häuptling hatte sich nicht getäuscht: Das Gebäude, das er vom Fenster aus gesehen hatte, umfasste nahezu den gesamten Innenhof. Es gab bestimmt hundert Erker, dazwischen Säulengänge und an der Oberseite des Hofs einen riesigen Balkon und darunter ein bestimmt drei Mann hohes Tor. Die Front dieser Gebäudeseite verlief gerade - anders als die viel längeren Flanken. Sie verjüngten sich allmählich zum Inneren des Hofes hin und machten nach ein paar hundert Pferdelängen schließlich einen leichten Knick. Trichterförmig verengten sich die Gebäudeseiten nun auf ein weiteres großes Tor zu, das dem anderen genau gegenüberlag. Und noch etwas fiel Kellen erst jetzt auf. Direkt hinter der gegenüberliegenden Gebäudeseite ragte eine steile Felswand empor. Die Burg schmiegte sich förmlich an den schroffen Berg. Der Häuptling war überwältigt. Er kannte zweistöckige Häuser und Festungen mit Holzpalisaden und Schutzwällen. Aber so etwas hatte er noch nicht gesehen. Alles war weiß wie Schnee und nahezu perfekt gearbeitet. Keine Risse, keine Löcher, kein Dreck.
Larinil warf ihm einen amüsierten, aber gleichzeitig zufriedenen Blick zu. Sie schien es zu genießen, ihn so erstaunt und beeindruckt zu sehen. Sie kam ihm immer weniger wie eine Göttin vor. Sie war schön, fremdartig und erhaben. Aber sie hatte auch etwas Menschliches an sich. Besonders jetzt, da sie direkt neben ihm stand und Kellen feststellte, dass sie fast einen Kopf kleiner war als er. Seltsam. Bis vor Kurzem hätte er sein Schwert darauf verwettet, dass sie größer war als er.
Sie gingen acht Stockwerke weit die Treppe hinab und traten durch eine weitere spitzbogige Tür hinaus in den Hof. Vier Lichtwesenmänner gingen an ihnen vorbei und sahen ihn dabei neugierig an. Die Männer trugen Hosen statt Kleider, ansonsten hatten sie ähnliche Gewänder wie Larinil - aus weiten, leichten Stoffen in kräftigen Farben. Ihre Augen waren grün, braun und blau, wie bei Menschen, aber allesamt ungewöhnlich hell. Und ihre Ohren waren spitz.
Kellen nickte ihnen zu und sie erwiderten den Gruß, sagten aber kein Wort.
„Das ist der Wohntrakt“, erklärte Larinil. „Alle Elvan jal'Iniai von Galandwyn leben hier.“ Sie blieb stehen, damit sich Kellen umsehen konnte. Die Gebäudeflanke, in der sein Zimmer lag, glich der gegenüberliegenden wie ein Ei dem anderen. Und auch hier ragte dahinter eine gewaltige Steilwand in die Höhe. Die Burg lag ganz offensichtlich in einer Schlucht und war damit von mindestens zwei Seiten her unangreifbar. Kellen war einmal mehr beeindruckt.
Der Gebäudeteil an der Front des Hofs war offenbar dem Burgherren vorbehalten. Die Säulen und Erker waren reicher verziert als die anderen und der große Balkon über dem Tor diente offenbar als Rednertribüne. Und als Schießstand, sollten Feinde in den Wohnhof eindringen. Ja, auch das machte Sinn, dachte Kellen. Die Bogenschützen könnten sich auf voller Breite aufstellen und hätten freies Schussfeld auf das gegenüberliegende Tor, das im deutlich engeren Bereich des Hofes lag. Dort durchzubrechen war tödlich. Und wer es trotzdem schaffte, auf den regneten von den Erkerfenstern und Säulengängen tonnenweise Geschosse herab. Diese Burg war nicht nur schön, sie war auch nach taktischen Gesichtspunkten meisterhaft geplant worden.
Larinil führte ihn durch das Tor unter dem Burgherrentrakt. Sie kamen in ein tunnelartiges Gewölbe, das von ein paar Fackeln erleuchtet war und bestimmt zehn Pferdelängen maß. Am Ende war ein weiteres Tor, das etwas kleiner war als das erste, aber dafür deutlich massiver. Es stand offen und Larinil und Kellen gingen hindurch.
Es machte der Kaijadan-Meisterin Freude, den Kelten-Häuptling zu beobachten. Anfangs hatte sie sich Sorgen gemacht. Wie würde er auf all das reagieren? Noch nie hatte ein Mensch Galandwyn von innen gesehen. Diese Geschöpfe lebten in kleinen, schmucklosen Hütten. Sie trotzten der Natur mühevoll ab, was sie zum Überleben brauchten. Und noch bevor sich die Blüte ihres Lebens entfalten konnte, war es zu Ende. Vernichtet durch Krankheit oder, was noch sinnloser war, durch die Hand eines Feindes. Larinil hatte Angst, dass Galandwyn ein solches Geschöpf in den Wahnsinn treiben könnte. Dass Vollkommenheit für die Unvollkommenen untragbar sein würde. Aber so war es nicht. Jedenfalls nicht bei Kellen. Der Häuptling war überwältigt. Aber er betrachtete die Dinge mit unverhohlener Neugier. Es lag ein Glanz in seinen dunklen Augen, wie sie ihn von Kindern kannte, die sich ungehemmt freuten.
Larinil hatte ihn in den heiligen Bereich der Burg geführt, in den Gartenhof Jolywan. Der hinterste Teil Galandwyns war allein der Schönheit gewidmet, im Halbkreis eingerahmt und geschützt von steilen Felswänden war er das Herz der Zuflucht. Weder Kampf noch Leid noch Hässlichkeit sollten hier ihren Platz haben. Wer hierher kam, war dem Licht näher als irgendwo anders in dieser Welt. Für Larinil war Jolywan der Vollkommenheit sehr nahe.
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