„Ist diese botanische Vielfalt typisch für das Allgäu?“
„Nein. Wären wir zur Schwarzenberghütte geschickt worden, über das Koblat, sähe das anders aus. Auch schön, aber nicht so bunt.“
„Das Koblat?“
„Ja. So eine Art Hochfläche da drüben“ – sie deutet nach hinten links – „entlang der Bergkette namens Daumengruppe. Wobei Fläche nicht ganz zutreffend ist, da es laufend hoch und runter geht. Kannst gleich sehen.“
Rosalia bleibt in einem konstanten Abstand vor ihr. Auch wenn Julia nicht die Langsamste ist, ist sie sich sicher, dass ihre Wandergefährtin auf sie Rücksicht nimmt und ohne sie eine andere Geschwindigkeit gehen könnte. Trotzdem haben sie bisher andere Wanderer überholt und sind selbst nicht überholt worden.
Nach eineinhalb Stunden ragt vor ihnen eine steile Rasenfläche empor, an der sich in Serpentinen der Weg etwa 150 Höhenmeter hochschlängelt. Es steht der erste ernstzunehmende Aufstieg bevor. Die bisherige Strecke war Julia zur Aktivierung der Trittsicherheit nützlich. Der Hauptberggrat zweigt rechtwinklig nach rechts ab, der Weg wechselt oben geradeaus auf die andere Seite.
Am Fuß der steilen Fläche befindet sich eine Absenkung des Grates, so dass der Weg in dieser Mulde auf die Oberkante trifft. Dadurch haben sie eine Aussicht in ein anderes Tal. Julia bleibt stehen. Der Ausblick ist einfach traumhaft.
Sie setzen für eine Rast ihre Rucksäcke ab und greifen nach ihren Trinkflaschen. Rosalia erklärt die Umgebung. „Dies ist das Obertal. Von Oberstdorf ist es bis dahin über Talwege ein großer Bogen. Hier vorne rechts der abzweigende Grat ist der Giebel, der von unserem Bergkamm wie eine Einschiftung an einem Haus abzweigt. Aus der Ferne betrachtet ist der Grat, also der First, gerade. Die seitlichen Hänge, also die Traufen, verlaufen optisch glatt und ebenförmig. Dort hinten, von hier aus am anderen Ende, ist der namensgebende frontseitige Giebel und unten am Fuß das Giebelhaus. Da kommen die beiderseitigen Täler zusammen und verschmelzen zum Hintersteiner Tal. Auf der anderen Seite vom Giebel ist das Bärgündeletal. Da kommen wir hin, denn dort ist auf der gegenüberliegenden Talseite unser Ziel, das Prinz-Luitpold-Haus. Bis dahin sind es noch zweieinhalb Stunden. Ins Bärgündeletal kommen wir, wenn wir dort oben auf die andere Seite des Bergkammes wechseln.“
Wie Rosalia hinauf deutet und Julia ihrem Blick folgt, nehmen sie oben am Hang einen einzelnen Wanderer wahr. Er trägt einen schwarzen Rucksack, den zwei leuchtend rote streifenförmige Absetzungen zieren. Julia äußert als erste den Gedanken, den beide haben.
„Mittlerweile sind nicht mehr viele Leute unterwegs. Ob das der ist, der in dem Hüttenbuch nach Kevin Schulte gesucht hat?“
„Mag sein. Sollen wir hoch und ihn genauer anschauen?“
Julia winkt ab. „Ne, lass mal, bis ich da oben bin, ist der auf der anderen Seite weit herunter. Falls der tatsächlich zum Prinz-Luitpold-Haus läuft, treffen wir ihn dort.“
Sie wendet wieder ihren Blick in das Obertal und über das Tal hinaus. Sie sieht auf die Gipfel, die jenseits der das Tal umschließenden Berge und Grate emporragen. Sehnsucht schießt in ihr empor, auf die Ferne, immer weiter zu laufen, in eine immer weitere Stille und Gewaltigkeit der Berge, eins mit der Natur, allein im Umkreis von allem Sichtbaren. Um nicht die Sehnsucht zu spüren nach Nähe, nach Geborgenheit und Vertrauen, nach Gewissheit. Und keiner Angst vor Verlust und Einsamkeit.
In solchen Momenten lässt sie niemanden in sich hineinschauen, nicht erahnen, welche Gefühlswelten sie durchlebt. Ihr Gesicht nimmt eine neutrale Maske an, der keine Gefühlsregung anzuerkennen ist. Kein Lächeln und keine Trauer, kein Grübeln und keine Boshaftigkeit. Vor allem keine Wehmütigkeit und Verlassenheit.
Folglich kann Rosalia nichts mit ihrem Gesichtsausdruck anfangen, so dass ihr nur eine Frage bleibt. „Alles ok mit Dir?“
Julia setzt schnell ein freundliches Lächeln auf. Diese Gefühle gehören ihr und gehen keinen etwas an. „Ja, alles ok. Was sind das für Hütten im Tal?“
„Die sind teilweise bewirtschaftet, mit Gastronomie, da bekommst Du selbstgemachte Milch oder Käse. Und ganz dort hinten, auf halber Höhe des Hanges, ist die Schwarzenberghütte, eine Alpenvereinshütte und in diesem Obertal die einzige Hütte, die Übernachtungen anbietet. Aber die ist ja heute nicht unser Ziel.“
Beide schauen auf das weit entfernte Gebäude am oberen Rand einer größeren Lichtung. Julia meint, auf der Wiese eine Person sitzen zu sehen, aber das kann man sich auf diese Entfernung gut einbilden.
4.6 Die Vier im Bärgündeletal
Der weiße SUV stoppt am Rand des asphaltierten Wirtschaftsweges im Bärgündeletal. Karsten Hinrichs steigt als Erster aus, die anderen folgen ihm nach und nach. Er schaut sich das Fahrzeug an, versehen mit rot-weiß-gestreiften Markierungen, einer gelben Warnlampe auf dem Dach und einem Schild „Vermessung“ hinter der Windschutzscheibe.
„Ist es nicht herrlich, wie einfach es ist, gesperrte Straßen zu durchfahren? Es gibt immer und überall etwas zu vermessen. Blöd nur, dass wir uns jedes Mal erneut ein weißes Fahrzeug sowie Nummernschilder der Region besorgen müssen. Egal, es klappt wieder prima, nicht wahr, Freunde?“
Tom Horn gesellt sich zu ihm, neu ausgestattet mit Wanderschuhen, Wanderhose und Wanderhemd, und betrachtet die umgebenden Berge. „Ganz toll. Und wo geht es weiter?“
Passend erscheint Florian Brackmann an seiner Seite. „Ihr folgt diesem abzweigenden unbefestigten Fahrweg bis zu einer Alm, dort geht es weiter auf einem ortsüblichen Wanderweg. Einfach der Beschilderung Prinz-Luitpold-Haus folgen. Es dürfte nicht zu verfehlen sein.“
„Wie lange, sagtest Du, soll das für einen Normalsterblichen dauern?“
„Eine Stunde, zwanzig Minuten.“
Alle drei schauen den Hang hinauf, wo sie das Gebäude vermuten, als Lars Boczony dazukommt, ebenfalls mit neuer Wanderbekleidung und mit bereits aufgesetztem Rucksack. Karsten Hinrichs nimmt ihn als Erstes wahr.
„Na, Bock, Du kannst es kaum abwarten, was?“
„Natürlich. Weißt Du, wann wir wirklich da oben ankommen? Nicht, dass sie weitergehen und wir sie verpassen. Oder worauf warten wir?“
Tom Horn dreht sich kopfschüttelnd ab, geht aber zum Auto, um seinen Rucksack zu holen und aufzusetzen. „Na, wenn Du es nicht erwarten kannst, starten wir.“ Er sieht Lars Boczony hinterher, der sich die ersten Schritte auf den Weg macht. Als sich auch Florian Brackmann ein wenig entfernt, um sich die Gegend anzuschauen, geht er zu Karsten Hinrichs und legt ihm seinen Arm um dessen Schultern.
„Bist Du schön artig, während ich weg bin?“
„Komm‘ schnell wieder da hinunter und laufe Dir keine Blasen.“
Seine Hand gleitet herab bis auf das Gesäß und greift dort kurz zu. Die Reaktion ist ein breites verschmitztes Lächeln. „Blasen ist ein schönes Stichwort. Ich hoffe, die Mädels halten uns nicht zu lange auf und wir können uns einen schönen Abend machen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er Lars Boczony hinterher.
4.7 Der Nachmittag am Prinz-Luitpold-Haus
„Wir sind gleich da.“
Julia kann Rosalias aufmunternde Worte gut gebrauchen. Seit dem Seitenwechsel des Berggrates am Laufbacher Eck in das Bärgündeletal hat sie vom Prinz-Luitpold-Haus nichts mehr gesehen. Zunächst waren sie kurz vor dem Talschluss 500 Höhenmeter abgestiegen und haben am Bachlauf eine Pause gemacht. Anschließend haben sie sich auf der anderen Talseite auf die Schlussetappe begeben, die sie wieder um 250 Höhenmeter nach oben gebracht hat.
Es waren auf diesem Teilstück weitere Wanderer unterwegs. Julia hat sich aber intuitiv auf den einzelnen mit dem schwarz-roten Rucksack festgelegt, der vor ihnen in dem Hüttenbuch geblättert haben muss. Seit dem Abstieg ins Bärgündeletal hat sie von ihm nichts mehr gesehen. Sie geht dennoch davon aus, dass er auf demselben Weg ein Stück voraus ist.
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