Die geschilderten Erlebnisse haben einen wahren Hintergrund und sind größtenteils aus dem Gedächtnis nach bestem Wissen und Gewissen niedergeschrieben. Eine Hilfe waren mir meine alten Schulsachen, Berichtshefte und Kollegs, die ich über Jahrzehnte bewahrt habe. Wo es dem Autor wichtig erschien, wurden alle Namen der beteiligten Personen geändert. Meine Freunde und Weggefährten von einst entschieden sich für die verkürzte Wiedergabe ihres Namens. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Um eine objektive Darstellung aus meiner Sicht war ich stets bemüht.
Hamburg, im August 2004 Conrad H. von Sengbusch
Herkunft – Kindheit zu Beginn der „goldenen“ 1950er Jahre
Jahrgang ’36
Ich wurde 1936 in Riga geboren und entstamme einer alten baltischen Familie von Großkaufleuten, Reedern und Fabrikanten, die schon zu Zeiten von „Katharina der Großen“ mit Alexander Gottschalk von Sengbusch das Stadthaupt von Riga stellte.
Ehemaliges Wohn- und Geschäftshaus der Familie von Sengbusch in Riga – Foto1992
1939 wurde die Familie nach Konitz in Westpreußen umgesiedelt. 1945 erfolgte die Flucht nach Zeulenroda in Thüringen in das mütterliche Elternhaus.
In den Jahren 1947 bis 1949 wuchs ich bei meinem Vater in Geesthacht an der Elbe auf.
Der Autor mit seinem Vater, aufgenommen 1947 in Hamburg.
Er bekam keine Dänen-Schulspeisung, da 1 kg Übergewicht!
Ein Tag von „48 Stunden“
Natürlich gibt es keinen Tag von 48 Stunden, aber es gibt Tage, die einem so lang erscheinen und schlagartig das ganze Leben verändern. Was ich vorher alles erlebt hatte, das waren Kindheitserlebnisse, hier aber war ich an der Schwelle zu den entscheidenden Jugendjahren und damals gerade 13 Jahre!
Es war im Juni 1949, eine Woche vor Pfingsten. Was lag hinter mir? Zwei Jahre zusammen mit meinem Vater, einer mehr oder weniger strengen Wirtschafterin, neu gewonnenen und auf einen Schlag wieder verlorenen Schulfreunden und der abrupte Abschied von dieser Zeit, die von Hunger, Kälte, Spannungen, Sorgen und der Hoffnung geprägt war, endlich einmal wieder in einer intakten Familie zu leben. Schließlich vermisste ich auch meine Mutter, die ich zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Die Jahre zu dritt - mein Vater, meine ältere Schwester und ich in einer kleinen unbeheizten Mansarde im Heuweg in Geesthacht – ging nun zu Ende.
Unsere Eltern hatten sich entschlossen, die Kinderschar in den damaligen unruhigen Zeiten aufzuteilen. Mein Vater lebte bereits seit 1946 in Westdeutschland und hatte hier einen kleinen, bescheidenen Handwerksbetrieb aufgebaut. Und weil meine Schwester und ich aus dem Baltikum gebürtig waren, empfanden es die Eltern als sicherer, uns nach Westdeutschland geben.
Unser Domizil in Geesthacht – Wohnhaus in Geesthacht-Düneberg, Heuweg. Unser „Zuhause“ (Schlafstelle) war von 1947-49 ein Mansardenzimmer, in dem wir auch im Winter 1947 ohne Heizung „lebten“!
Als sich die Verhältnisse in Ost und West wieder stabilisierten und die Wirtschafterin die Mitteilung bekam, dass ihr als „gefallen“ gemeldeter Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehre, entschloss sich meine Mutter, uns wieder nach Zeulenroda in ihr großbürgerliches Elternhaus zurückzuholen.
Ganz plötzlich war sie angereist, und wir Kinder saßen zwischen „Baum und Borke“, sollten sofort packen, und so kam es dann auch. Wir wurden gar nicht gefragt, sondern erlebten das Spannungsfeld zwischen meinen Eltern hautnah mit. Aber es kam noch viel besser:
Mit dem Zug ging es gleich am nächsten Morgen zu der Verwandtschaft in die Rhön. Diese Familie hatte nichts verloren und lebte in einem Forsthaus inmitten des Reviers Wasserkuppe. Es gab hier alles, was man bei wohlhabenden Leuten erwartete: Ein eigenes Jagd- und Fischrevier, Reitpferde, Zugpferde, etwas Landwirtschaft und ergebenes Gesinde. Dennoch und trotz alles Reichtums habe ich diese Familie nie glücklich erlebt. Hass, Zwietracht und Verachtung für die angeheiratete und „verarmte Verwandtschaft aus dem Osten“, waren hier die Grundeinstellung des Denkens und Handelns. Das große Anwesen wurde von Tante M. straff geführt. Sie war das Abbild einer Tante, wie sie nicht sein soll und vor der sich Kinder fürchten: Ein schmales, blasses, blutleeres Gesicht, eine lange, dünne Nase, ein verbissener, kleiner Mund – wie ein Strich – und eine äußert „spitze Zunge“. Ein falsches Wort zur unrechten Zeit, und die Tante explodierte. Die Sprache wandelte sich dann von eintönig in einen Tonfall, bei dem kurze, herausgestoßene sarkastische Worte in ein Stakkato übergingen und in herausgeschleuderten Hasstiraden endeten. Selbst die Frisur hatte nichts Weibliches: Solange ich die Dame kannte, trug sie einen äußerst knappen Herrenschnitt, den ich damals als sehr herb empfand, der aber, die heutige Damenwelt möge es mir verzeihen, z. Z. durchaus „im Trend“ ist. Aber heute ist eh alles anders, deshalb weiter im Gestern. Tante M. war die „Fleischwerdung eines Grabes der Gefühle“, wenn es so etwas gibt. Zur Familie gehörte auch Onkel P., ein rühriger, menschlicher, gebildeter, humorvoller hoher Staatsbeamter, eine Seele von Mensch, bei dem ich im Krieg an seinem Dienstort in Westpreußen sehr schöne Ferien verbracht hatte. Ein Wunder, wie solche Charaktere zusammenfinden und auch noch eine Großfamilie mit drei Kindern gründen können.
Wir saßen im dämmerigen Salon, dessen Interieur von Jagdtrophäen aller Art geprägt wurde, wie man das auch in einem Forsthaus erwartet. Hirschgeweihe, Rehbockgehörn, Spießergehörne, ein paar ausgestopfte Tiere. Vernehmlich laut tickte die Standuhr und erhöhte die unerträgliche Spannung, denn es wollte an diesem Tag nicht so recht hell werden. Die Stunde unseres Aufbruchs rückte näher und näher. Wir mussten „schwarz“ über die „Grüne Grenze“, wie man damals sagte. Nur ab und zu wurde leise gesprochen. Meine Schwester Monika, damals 15 und ich, 13 Jahre alt, hatten zu schweigen, wie es sich für Kinder gehörte. Ich hörte Gesprächsfetzen, wie „Führer“, „Offizier“, „ehrenhaft“, „Ritterkreuzträger“, „verlässlicher Mensch“, „40 Mark West pro Person“ und machte mir daraus ein Bild einer generalstabsmäßig geplanten Vorbereitung unseres Vorhabens. Die Ehrfurcht vor Chargierten steckte noch in den Knochen der Älteren, und auch wir waren davon nicht unbeeindruckt. Es war ja auch erst ein paar Jahre her, dass wir mit Uniformen um uns aufgewachsen waren. Einige Ritterkreuzträger kannte ich von meiner Postkartensammlung, die ich als Kind hatte und die wöchentlich ergänzt wurde. Unser „Führer“, ein professioneller Grenzgänger, ehemaliger höherer Offizier und Ritterkreuzträger, verlässlich, erprobt und erfahren, war bereits ausgesucht und bezahlt, blieb aber namentlich anonym. Ihm hatten wir uns bedingungslos anzuvertrauen. Das Unternehmen konnte starten.
Im alten Vorkriegs-OPEL-Kadett von Onkel P. den natürlich Tante M. chauffierte, näherten wir uns dem Grenzort Tann. Während der Fahrt eisiges Schweigen, das ab und zu von kurzen Vorhaltungen unterbrochen wurde, die sich aufschaukelten und in Keifen übergingen, weil sich Onkel P. mit Kommentaren zurückhielt. Das war für uns als Unbeteiligte natürlich keine angenehme Situation. Wir saßen zusammengekauert im Fond und schwiegen betreten. Mehrfach erging nun die Aufforderung an Onkel P., das Fahrzeug sofort auf freier Strecke zu verlassen, was er natürlich nicht tat. Auf thüringisch hörte sich das so an: „Baul, naus!“ oder auf hochdeutsch „Paul, hinaus!“ Als nach Jahrzehnten die Nachricht kam, Onkel P. sei inmitten seines geliebten Reviers plötzlich tot umgefallen, muss es für ihn eine Erlösung gewesen sein.
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