„Setz dich!“, knurrt unser Vater mich an und deutet auf den Platz neben Sven. Der ist sichtlich dankbar dafür, nun nicht mehr allein auf der Anklagebank zu sitzen.
„Um noch einmal auf den Punkt zurückzukommen.“, setzt der ABV ein offenbar bereits vorher begonnenes Gespräch fort, „Es gibt ernsthafte Anzeichen einer zunehmenden Verlodderung ihrer Söhne, Herr und Frau Reichel. Über Sven haben wir jetzt bereits gesprochen. Die eigenartige Kleidung ist eine Sache. Viele Jugendliche haben neuerdings ja einen Dachschaden, was das Auftreten in der Öffentlichkeit betrifft.“ Er blickt nach Zustimmung heischend zu meinen Eltern. Mein Vater schnaubt vor sich hin. Er ist ein Meister darin, nicht erkennen zu lassen, ob er einer Behauptung zustimmt oder nicht. Meine Mutter lächelt Herrn Schubert traurig an und nickt zaghaft. „Aber dass er Wände mit farbigen Botschaften verunstaltet, geht eindeutig zu weit.“, wird die Stimme des ABV nun lauter.
„Das liegt alles an diesem Film.“, jammert meine Mutter. „Beat Street. Der kam neulich im Fernsehen. Und seitdem zieht er sich so komische Hüte auf den Kopf, macht allerlei Verrenkungen und malt Wände an. Ich verstehe es nicht.“
„Dieser Film sollte eigentlich Ansporn genug sein, die Falschheit des kapitalistischen Systems zu verstehen und sich noch mehr mit der solidarischen Gesellschaft in unserem schönen Land verbunden zu fühlen. Leider geraten immer wieder Jugendliche auf die schiefe Bahn, weil sie glauben, diese Ghettos hier nachspielen zu müssen. Wilde Sozialromantik, wenn Sie mich fragen.“, doziert der ABV.
Mein Vater schnaubt wieder, diesmal eindeutig verächtlich.
„Aber der Film kam schon vor über drei Jahren in die Kinos der DDR und doch haben es bisher nur wenige Jugendliche so weit getrieben wie Sven. Das muss aufhören!“, mahnt Oberleutnant Schubert eindringlich.
„Und dann tobt er ständig mit diesen Negern herum.“, wirft mein Vater abschätzig ein.
Der ABV blickt ihn verwirrt an.
„Vor dem Kubanerwohnheim.“, erklärt meine Mutter.
„Wir tanzen Breakdance.“, rechtfertigt sich Sven empört. „Und Neger sagt man nicht.“
„Komm du mir nicht so, Freundchen!“, brüllt mein Vater und droht ihm mit dem Finger.
„Gegen ein bisschen Tanz ist nichts einzuwenden.“, versucht der ABV die familiären Wogen zu glätten, „aber es muss schon gesittet zugehen. Solches Hottentottengehampel ist nichts für ordnungsliebende DDR-Bürger.“, weist er Sven sanft in seine Schranken.
„Der eigentliche Grund für mein Kommen ist aber ein Anruf, den ich vor ungefähr einer Stunde erhalten habe. Oberleutnant Wischmann hat mich über einen Vorfall auf dem Luisenplatz informiert, in den Tilo verwickelt war.“ Er schaut mir tief in die Augen.
Meine Mutter schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Ich sehe, wie Tränen in ihren Augen aufsteigen. Mein Vater rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Öffentliche Ruhestörung und Vandalismus auf einem Kinderspielplatz wurden mir gemeldet.“ Oberleutnant Schubert spricht diesen Satz ganz ruhig aus und lässt die Bedeutung der Worte sich ganz allmählich in der Luft entfalten.
„Sag mal, hast du sie noch alle?“ Mein Vater schlägt mit der flachen Hand auf den Küchentisch und funkelt mich wütend an. Ich zucke zusammen, ebenso wie Sven, der sich wieder in seine Ecke verkriecht.
„Aber, wir haben doch gar nicht...“, versuche ich, mich zu rechtfertigen.
„Tilo, überlege dir genau, was du jetzt sagst!“, unterbricht mich der ABV mit ruhiger Stimme. „Du willst sicher nicht behaupten, dass ein staatlicher Ordnungshüter die Unwahrheit sagt, oder?“ Obwohl es wie eine Frage formuliert ist, spüre ich deutlich, dass es sich um eine Anordnung von oben handelt.
„Nein, natürlich nicht.“, nuschle ich und lasse die Schultern hängen.
„Bist du ein Rocker, Tilo?“, fragt mich Oberleutnant Schubert weiter mit sanfter Stimme.
„Nein, natürlich nicht.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich bin doch kein Rocker. Metaller, ja, aber Rocker? Niemals!
„Bist du ein Tramp?“, hakt der ABV weiter nach.
„Nein.“ Ich muss mich zusammenreißen, über diesen Begriff, der schon seit Jahrzehnten aus der Mode ist, nicht lauthals zu lachen.
„Dann sorge dafür, dass dem auch so bleibt!“, erwidert Oberleutnant Schubert und blickt mich eindringlich an. „Und auch du bleibst besser in der Spur, Sven!“, fügt er an meinen Bruder gewandt hinzu.
„Rowdytum, Vandalismus und Sachbeschädigung sind keine Kavaliersdelikte.“, doziert der Polizist nun für die ganze Familie. „Sie führen zu deutlichen Konsequenzen und werden von den Ordnungskräften der Polizei rigoros verfolgt. Jeder muss seinen Beitrag für das Wohlergehen aller in diesem Land leisten. Da haben wir keinen Platz für Herumtreiber, Verweigerer oder Störer. Am Ende endet ihr noch wie diese Punker.“ Das letzte Wort spuckt er förmlich in die Küche.
Meine Mutter bricht in einen heftigen Weinkrampf aus. Hilflos sitzt sie auf ihrem Stuhl und schluchzt hemmungslos vor sich hin. Vater schickt abwechselnd seinen beiden missratenen Söhnen zornige Funkenblitze und seiner nervlich völlig aufgelösten Frau hilflose Blicke aus seinem rot angelaufenen Gesicht entgegen.
„Nun, ich bin mir sicher, ihr werdet wieder in die richtige Bahn finden. Ich dachte nur, es ist besser, frühzeitig präventiv tätig zu werden, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.“, fasst Oberleutnant Schubert den Grund seiner Visite noch einmal zusammen.
Bei dem Punkt mit dem Kind und dem Brunnen schluchzt meine Mutter erneut laut auf.
Der ABV tippt sich an die Mütze und macht sich eilig aus dem Staub.
Mutter ist nicht zu bremsen und heult immer lauter werdend vor sich hin.
„Raus mit euch!“, brüllt mein völlig überforderter Vater. „Auf eure Zimmer! Alle beide! Ich will euch hier heute nicht mehr sehen!“ Er winkt mit dem rechten Arm Richtung Küchentür. Sven und ich ergreifen die sich uns bietende Chance, dem Familiendrama zu entfliehen. Alles in allem scheinen wir noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
„Kein Fernsehen für eine Woche!“, brüllt Vater uns noch hinterher, als wir schon den Flur erreicht haben.
Bevor Sven in seinem Zimmer verschwindet, dreht er sich noch einmal um, verdreht die Augen und grinst mir verschwörerisch zu. Offenbar hat dieser Spätsommer mehr als nur einen Rebellen in der Familie Reichel heranwachsen lassen.
Inzwischen hat sich die Lautstärke von Mutters Weinattacken nach unten gepegelt. Nur vereinzelt höre ich noch herzzerreißende Schluchzer durch die dünnen Wände bis in mein Zimmer dringen. Dafür werden die Stimmen unserer Eltern von Minute zu Minute lauter. Schon bald werfen sie sich wütende Wortfetzen um die Ohren. Wieder einmal gibt es einen lautstarken Streit im Hause Reichel, so einen, von dem die ganze Hausgemeinschaft etwas hat. Ich wette, selbst der schwerhörige Herr Bergmann im 11. Stock kann noch alles genau verstehen. Und Schuld daran sind allein ich und Sven.
Ich will gar nicht hören, was sie sich wieder an die Köpfe werfen. Zum Selbstschutz lege ich Roberts Kassettenkopie von Blitzz in meinen klapprigen Rekorder mit dem wunderbaren Namen Anett, stecke die Kopfhörer an und ziehe mich in meinen eigenen, ganz privaten Schutzraum zurück.
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