„Hände hoch und winken!“, zischt Falk, der von uns unbemerkt in der Masse der für Frieden und Solidarität demonstrierenden Schüler zu uns aufgeschlossen hat.
„Was will der denn von uns?“, mault Olaf.
„Lass dich nicht provozieren!“, schärft ihm Robert ein. „Es gibt Situationen, in denen hält man lieber die Klappe.“
„Käme ihm gerade recht, wenn er uns vor allen bloßstellen könnte.“, flüstert Sirko in der Hoffnung, dass Falk uns nicht versteht.
Also heben wir gehorsam unsere Hände, winken behäbig nach rechts, wo die Ehrentribüne in Sicht kommt und achten darauf, nur nicht im unpassenden Moment zu stolpern. Auf Höhe des riesigen Karl-Marx-Kopfes, den in der Stadt jeder nur als ,Nischel‘ kennt, nehmen wir die Hände wieder herunter und trotten die letzten paar Meter im sich auflösenden Demonstrationszug mit. Die Neuntklässler vorn sind bereits im Gehen dabei, das Transparent zusammenzuwickeln und streiten sich bestimmt schon, wer es mitnehmen und morgen zur Schule bringen muss.
18 Jahre sein – Formel 1
Wir sind wieder einmal unter den ersten, die sich auf dem Schulhof tummeln. Mein Vater hat mal von einer alten Weisheit erzählt, die besagt, dass derjenige, der am weitesten weg wohnt, immer als erster bei der Hochzeit auftaucht. Heute verstehe ich zum ersten Mal, was er damit gemeint haben könnte. Sven verzieht sich zu seinen Kumpels, die hinter einem aus Schaumstoff und Pflaster zusammengeflickten Ball hertoben.
Unschlüssig schaue ich mich um und entscheide dann, mich mangels potentieller Gesprächspartner möglichst elegant gegen die Ziegelmauer des Schulgebäudes zu lehnen. Die Arme vor der Brust verschränkt, versuche ich, so lässig zu wirken wie einst James Dean, oder wenigstens so umwerfend weltvergessen wie Alexandre Sterling als Mathieu in La Boum. Fehlt eigentlich nur noch Sophie Marceau, die um die Ecke biegt und endlich erkennt, dass ihr Traummann die ganze Zeit schon vor ihren Augen existiert hat.
Das Knattern eines Motorrads lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Das satte Geräusch verrät sofort die AWO 425 Sport, eine absolute Rarität, die sich nur wirklich geschickte Schrauber oder reiche Bonzen leisten können. Auch unter den anderen Schülern hat sich die Neuigkeit herumgesprochen. Der halbe Schulhof ist aus dem Häuschen und drängt sich am Zaun zusammen, um einen flüchtigen Blick auf das heiße Gefährt zu werfen. Zu meiner inneren Enttäuschung sehe ich mich gezwungen, weiter an meinem Platz stehen zu bleiben. Die fünf Minuten, die ich bereits in die Zurschaustellung meiner Erhabenheit über den schnöden Alltag investiert habe, wären völlig für die Katz gewesen, hätte ich dem ersten Drang nachgegeben und wäre sensationslüstern wie der Rest der Meute dem erstbesten Motorradfahrer hinterhergehechelt.
Zur allgemeinen Überraschung bleibt die AWO vor der Schule stehen. Das satte Motorgeräusch erstirbt. Ich kann auch von meiner Position erkennen, wie der Sozius vom hinteren Sitz steigt und am Bändchen des Helms herumfummelt. Offenbar wurde hier ein Mädchen von ihrem Vater zur Schule gebracht. Starke Leistung des alten Herrn. Damit wird sie in der Sozialhierarchie der Schule um viele Stufen aufsteigen.
Endlich hat sie die Schnalle geöffnet und hebt den Helm vom Kopf. Für einen Augenblick verschlägt es mir die Sprache. Jana Gebauers rote Mähne flattert durch die Luft, als sie ihre Frisur theaterreif auffrischt. Mit allem hätte ich gerechnet, nur damit nicht.
Der Motorradfahrer steigt ebenfalls ab und nimmt den Helm vom Kopf. Er streicht mit seiner linken Hand durch die dunkelbraunen Haare, die trotz des Helms erstaunlich gut sitzen. Ganz eindeutig ist das nicht Janas Vater. Sie hat sich also von ihrem Bruder zur Schule fahren lassen. Wie süß. Ich wusste gar nicht, dass sie einen Bruder hat. Aber so eng sind wir ja auch noch nicht, dass ich ihre Familienverhältnisse in- und auswendig kennen würde.
Beinahe zärtlich berührt seine Hand unter den Augen der Schulhofbesatzung Janas Wange. Ihre Münder nähern sich einander und es folgt unter dem herzerwärmenden kollektiven Seufzen der Siebt- bis Zehntklässlerinnen ein langer Kuss mit allem drum und dran. Vermutlich einer der eher feuchteren Sorte, geht es mir irrsinniger Weise durch den Kopf.
„Ekelerregend, was?“, reißt mich eine Stimme von links aus diesem Albtraum.
Ich drehe den Kopf und blicke in Falks blaue Augen. Ich bin mir nicht sicher, aber es scheint mir, als hätte ihn diese öffentliche Zurschaustellung inniger Zweisamkeit mehr mitgenommen, als ich es bei einem Frauenschwarm wie ihm erwartet hätte. Es muss ein wahrer Tiefschlag für ihn sein, dass es offensichtlich ein noch ranghöheres Alphamännchen im Revier gibt.
Zum ersten Mal in meiner Schullaufbahn spüre ich den Drang, Falk in seiner Einschätzung der Situation beizupflichten. „Ach, der muss sowieso bald zur Fahne.“, sage ich, weniger, um ihn zu beruhigen als zur Massage meiner eigenen geschundenen Nerven.
„Eifersüchtig?“, fragt er mich mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.
„Quatsch!“, entfährt es mir ein Bisschen zu schnell und ein Bisschen zu heftig.
Er wirft mir einen letzten wissenden Blick zu, schielt noch einmal kurz zu Jana, deren Freund sich bereits wieder auf das Motorrad geschwungen hat und verschwindet schnaufend in der Schule.
Sirkos Stimme lenkt mich von meinen schwermütigen Gedanken ab. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“
„Er sieht echt aus wie ein Haufen Scheiße, oder?“, fällt Robert ein vernichtendes Urteil.
„Es heißt Häufchen Elend.“, weißt ihn Sirko grinsend zurück.
„Habt ihr nicht eben Jana rumknutschen sehen?“, fragt Olaf empört. „Schon wieder ein neuer Typ mit einem fetten Motorrad.“ Mitfühlend legt er mir die Hand auf die Schulter. „Alter, der geht sowieso bald zur Fahne.“, versucht unser Schwergewicht mich aufzumuntern.
Ich fasse es nicht. Ausgerechnet dieser doofe Spruch scheint mein neues Mantra zu sein. Ich spüre ein Kribbeln in der Magengegend, das sich langsam, aber unaufhaltsam einen Weg Richtung Kehlkopf sucht und dabei immer größer, stärker und drängender wird. In einem letzten Anflug der Verweigerung schnaube ich durch die Nase, doch dann kann ich das Kichern nicht mehr unterdrücken. Es bricht sich Bahn und sprudelt aus meinem Mund heraus.
Sirko, Olaf und Robert stehen bedröppelt neben mir, während mehr und mehr Mitglieder der auf dem Schulhof versammelten Schülerschaft in mir eine neue Attraktion entdecken und sich ein loser Ring interessierter Gaffer um uns bildet. Als ich mir den Bauch halten muss, wird es Robert zu bunt. Er tippt sich gegen die Stirn und ruft lautstark als Erklärung für alle Umstehenden: „Total gaga, der Mann.“
Bevor er weiter über meinen geistigen Zustand dozieren kann, rettet uns die Schulklingel, die über den Platz schrillt. In Windeseile löst sich der Kreis um uns auf und alles stürmt ins Schulgebäude hinein, um ja rechtzeitig auf den Plätzen zu sein. Mein fatalistischer Kicheranfall versiegt, ich bin aber reichlich erschöpft und so greifen mir Sirko und Olaf im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme. Ich sehe noch, wie direkt vor uns Jana Gebauer durch das Tor schlüpft. Ob sie mich gesehen hat, kann ich nicht sagen, aber im Augenblick ist das sowieso egal.
„Was ist denn das für ein Geschramme?“, wundert sich Olaf, als er endlich zu unserem Treffpunkt auf dem Spielplatz kommt.
„Schon fertig mit putzen?“, zieht ihn Robert auf, ohne auf Olafs Frage einzugehen.
„Ach, leck mich!“, kontert der Reinigungsdiensthabende wortgewandt.
Sirko hat seinen mira-Kassettenrekorder mitgebracht. Robert hat gemeint, er hätte neues Material. Aus dem einzigen Lautsprecher tönt etwas blechern Formel 1.
„Formel 1.“, gehe ich endlich auf Olafs Frage ein.
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