1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Jörgen Haffner war in Sachen Anatomie und Physiologie ausgezeichnet unterrichtet. Das brachte sein Beruf mit sich. Mit Sachkenntnis erörterten die beiden Haffners Margaretes Zustand. Jörgen entschied: „Wir warten noch ein paar Stunden und wenn sich dann nichts getan hat, greifen wir ein.“ Vorsorglich legte der Mann ein paar Werkzeuge, Zangen, Messer, Schere und Faden, zurecht. Ottilie Haffner mischte aus den gewissenhaft gehüteten Arzneien ein Narkotikum. Als alles soweit vorbereitet war, setzten sie sich nieder und lauschten auf jedes Geräusch. Es tat sich nichts. Gegen Mitternacht gingen sie zu der Kreisenden hinein. Die reagierte kaum noch.
Mit behutsamen Handgriffen befreiten sie Margarete von ihrer Kleidung. Jörgen zog Margarete am Oberkörper hoch und hielt sie in dieser Stellung fest. Ottilie suchte und fand auf dem Bauch der Kreisenden den richtigen Druckpunkt, presste mit aller Kraft ihre eine, zur Faust geballte Hand in den hoch gewölbten Leib, mit der anderen, offenen Hand stützte sie der Frau Beckenboden ab. Ein durchdringender Schmerz nahm Margarete das Bewusstsein.
Ottilie Haffner hob ein schrumpeliges, blaurot gefärbtes, matt glänzendes Kindchen aus dem Mutterschoß. „Aha, Steißlage“, erkannte sie den Grund der Verhinderung. Jörgen Haffner brachte die junge Mutter vorsichtig in Liegeposition und bedeckte sie mit Tüchern. Der kleine Mensch in Ottilies Händen zitterte, japste nach Luft und schrie mit einem Mal, dass es einem durch Mark und Bein ging. Die Haffners schauten sich glücklich an: „Uns ist ein Jesuskind geboren.“ Jörgen Haffner kniete nieder, ließ sich das Kind auf seine großen verarbeiteten Hände legen und sprach ein Gebet.
Während Frau Haffner das Kind versorgte, kümmerte sich Jörgen Haffner um Margarete. Sie musste gewaschen, bekleidet und in frisches Bettzeug gelegt werden. Die junge Mutter erwachte aus ihrer Ohnmacht und blickte ängstlich suchend im Raum umher. Haffner: „Sei ganz ruhig, es ist alles gut gegangen. Ein kleiner Jesus ist geboren.“ Ottilie gab der Mutter das Kind in den Arm. Beide schliefen selig ein. Die Haffners räumten noch auf und gingen dann in ihr Schlafzimmer.
Am Vormittag öffnete der junge Otto Haffner ganz leise die Kammertür und lugte zur Margarete herein. Die schaute hoch und lächelte. Otto fragte unsicher: „Darf man mal das Kindchen sehen?“ Margarete lud den Jungen ein. Erklärend fügte Otto hinzu: „Die Mutter sagt, es ist ein Jesuskind geworden.“ Margarete schränkte ein: „Nun ja, nicht gerade ein Jesuskind. Ein kleiner Sebastian ist es geworden. Aber das ist ja auch schon was.“ Otto betrachtete bewundernd das Kind. So klein, so faltig, so durchscheinend. Er fragte unsicher: „Und das soll mal groß werden?“ Margarete sprach nachsichtig lächelnd: „Ja. Du warst auch mal so klein.“ Dem Jungen schien das unwahrscheinlich. Er musste es glauben und verwies dann diese Erkenntnis in die Kategorie der Wunder. Margarete war ihm jetzt eine Heilige. In der Tat strahlte die junge Mutter große übersinnliche Ruhe aus. Otto mochte die erhebende, friedvolle Atmosphäre nicht verlassen und erbot sich: „Kann ich etwas für Dich tun?“ Margarete sagte: „Aber gern. Hole eine Feder und Tinte und trage die Geburt meines Sohnes dort in mein Schreibbüchlein ein.“ Otto stob davon und kehrte wenige Minuten später zurück.
Mit seiner ungeübten Handschrift folgte er dem Diktat: „Am Sonntag, den 14. September 1614, ist den von Minden hier in Stendal ihr Sohn Sebastian geboren worden.“
Am Vormittag des zehnten Tages nach der Geburt schritten die Haffners und ihre Leute in einer kleinen Prozession zur Kirche. Vorn liefen Vater und Sohn, dahinter die Knechte und ganz hinten Ottilie und Margarete abwechselnd das Kind tragend. Die Nachbarn schauten neugierig, grüßten zurückhaltend freundlich, und spätestens zu diesem Zeitpunkt erfuhr auch der letzte Stendaler, dass den Haffners ein Enkelkind geboren ist. Allgemeinhin waren deren Familienverhältnisse undurchsichtig und indiskutabel. Wer mischt sich schon in die Privatangelegenheiten eines Scharfrichters ein?
Die Haffners trafen den Pastor in der Kirche vor dem Taufbecken wartend an. Die kleine Zeremonie verlief wie gewohnt. Salbungsvoll, ein wenig schwülstig nahm der Gottesmann das Kind in die Gemeinde der Stendaler lutherisch-reformierten Kirche auf. Jörgen Haffner schaute zufrieden. Immerhin hatte er zwei Taler vorgestreckt. Damit wurde der Junge ein Stendaler. Die Eintragung im Kirchenregister war ein Unterpfand für spätere Bürgerrechte. Sebastian sollte es gut haben.
Als das Prozedere beendet war und die Haffners sich anschickten, die Kirche zu verlassen, griff der Pastor den Familienältesten am Arm und zog ihn mit sich zur Sakristei. In dem abgeschiedenen Raum lag auf einem hohen Tischchen die Registratur des Gotteshauses aufgeschlagen. Der Pfarrer nötigte den Jörgen Haffner dorthin. Er redete schleimig: „Nun, ich will Dir ja nichts abschlagen, aber der Sebastian von Minden ist ein Illegaler. Weder die Mutter noch der Vater sind auf diesen Seiten hier zu finden.“ Er blätterte demonstrativ das Buch von vorn bis hinten durch. Ihm war bewusst: Hier will sich einer einschleichen. Da spielt er nicht mit. Für Dahergelaufene, Obdachlose, liederliche Leute sind die kleinen Landpfarrer oder die paar katholischen Priester zuständig. Der Pfarrer der reichen und stolzen Stadt Stendal muss sich mit solchen Mauscheleien nicht abgeben, es sei denn, man bezahlt ihn anständig.
Dem Jörgen Haffner schwoll der Kamm. Das Wichtigste, nämlich die Eintragung, wollte ihm dieser Sack jetzt verwehren. Gepresst schlug er vor: „Was kann ich drauflegen?“ Der Pfarrer tat überlegend und verlangte scheinbar demütig: „An die zehn Taler müsste das wert sein.“ Jörgen Haffner nahm sein Geldsäckchen hervor, zählte drei Münzen auf das Pult, behielt fünf in der Hand und zischte: „Schreiben!“ Der Pfarrer griff zur Feder und dokumentierte die Geburt und Taufe des kleinen Sohnes der von Minden. Haffner knallte das restliche Geld auf den Tisch und trat wütend ab.
Vor der Kirche traf er auf die Seinen. Er schaute in erwartungsfrohe Gesichter, schluckte seinen Ärger runter und verkündete: „Es ist vollbracht.“ Auf dem Heimweg konstatierte er trocken: „Kinder, wir sind pleite.“
Zu Hause war ein Festmahl vorbereitet. Eine Taufe will gefeiert und begossen sein. Ottilie hantierte an Töpfen und Pfannen, Margarete ging ihr zur Hand und stellte Geschirr und Trinkbecher auf den Tisch. Otto brachte die Kerzen und legte Herbstblumen als Dekoration auf das weiße Tischtuch. Vater Jörgen Haffner, die Knechte Artur und Marcus saßen abseits und probierten vorab schon mal den schweren Branntwein. Besuch wurde nicht erwartet. Sie hatten keine Verwandten in der näheren Umgebung. Nachbarn ließen sich schon gar nicht herbei. Wer gastiert schon gern bei einem Scharfrichter?
Als sie alle satt und träge wurden, nahm Mutter Ottilie das Wort: „Leider, Ihr Lieben, werden wir die nächste Zeit etwas sparen müssen. Aber das schadet nichts. Wir schaffen das schon, bis Vater wiedermal einen guten Fall hereinbekommt.“ - „Es wird zu wenig geklaut und gemordet in dieser Gegend“, gab der angetrunkene Hausherr mit schwerer Stimme zum Besten. Die Knechte lachten wiehernd. Die Mutter erzwang sich mit einem missbilligenden Blick erneut Ruhe: „Wir lassen beim Schlachter, beim Bäcker und auf dem Markt anschreiben. Wer verwehrt dem Scharfrichter schon eine Bitte?“ Das leuchtete ein. Sie werden schon zurechtkommen. Man hatte keine Lust, sich den schönen Tag mit düsteren Gedanken zu verderben.
Margarete fasste den Plan, von hier fortzugehen. Was musste sie den lieben Menschen auf der Tasche liegen?
Die von Minden in Tangermünde
Das Stammhaus der von Minden in der Straße Schlossfreiheit in Tangermünde war ein großes Wohn- und Geschäftshaus mit drei Etagen übereinander. Im Erdgeschoss des Hauses hatten sich die von-Minden-Männer ihre Arbeitsräume eingerichtet. Gäste, Geschäftspartner und Agenten wurden hier empfangen, angehört, beraten, beauftragt und über den Tisch gezogen. Im ersten Obergeschoss spielte sich das Familienleben ab. Mehrere Zimmer dienten dem Aufenthalt und der Behaglichkeit des Hausherrn Baltasar, des Sohnes Caspar und seiner Frau Juliana sowie deren kleinen Töchtern, der Agnes und der Rosi. Im Dachgeschoss wohnte wie eh und je der Stammvater Conrad von Minden. Neben dem Haus gab es eine Auffahrt zu den rückwärtigen Anlagen: Ein Hof mit Stallungen für Pferde und Schuppen für Wagen und Gerät, Warenspeicher, ein kleines Wohnhaus für ständige oder temporär anzumietende Arbeitskräfte und seitlich einen Garten.
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