Der Alte hockte schweigend dabei. Margarete wartete.
Caspar holte aus: „Sehen Sie, Frau Margarete, das hört sich alles gut und schön und sehr plausibel an. Und ich sage Ihnen offenen Herzens, gern hören wir von dem Sohn unseres verschollenen Albrecht.“ Er grinste wieder das kleine Kind an und log unverblümt weiter: „Gern würden wir Sie und den Knaben hier versorgt wissen. Nur leider, leider, leider. Uns fehlen die Mittel dazu. Das Haus ist jetzt schon restlos übervölkert und unsere Kapitalien liegen fest. Leider haben wir fast keine Reserven mehr. Ich möchte es nicht so ehrlich sagen, aber Ihnen darf ich ja vertrauen: Wir haben längst die Grenzen unserer Möglichkeiten überschritten. Ich gebe Ihnen, sagen wir, zwanzig oder dreißig Goldstücke als Startkapital für Ihre guten Absichten. Mehr ist absolut nicht drin, und Sie gehen ihrem gewohnten Leben wieder nach.“ Margarete verzog spitz lächelnd den Mund und frohlockte: Donnerwetter! Wenn der so viel rausrückt, dann müssen die von Minden wirklich reich sein.
Sie überflog das Für und Wider: Zwanzig, dreißig Goldstücke ist ein Vermögen. Das reicht lange. Ein, zwei Jahre auf jeden Fall. Damit kann ich mich hier niederlassen, mein Theater aufbauen, Bücher schreiben, zu Erfolg und Ruhm kommen und uns eine sichere Existenz bieten. Schon schlichen sich Bedenken ein: Nur, mein Kind bleibt eine Halbwaise. Das Kind einer alleinstehenden Frau. Die bestehenden Vorurteile sind auch mit dem größten Selbstbewusstsein nicht aus der Welt zu schaffen. Bin ich dem Kind nicht schuldig, seinen Unterhalt einzutreiben und ihm seinen Platz in der Familie zu verschaffen?
„Sie müssen doch ein Interesse daran haben, ihren Neffen und Enkelsohn dauerhaft gut zu stellen“, drängte sich Margarete noch einmal vor. Die Männer hoben abwehrend die Hände. Caspar raunzte unflätig: „Ich kann Sie auch mit der Stadtwache fortschaffen lassen.“ Ist ja gut, dachte Margarete und lächelte gewinnend: „Abgemacht. Ich begnüge mich mit dreißig Goldstücken und ziehe mich zurück.“
Dreißig Goldstücke wurden ausbezahlt. Margarete quittierte den Erhalt. Als sie fort war, zerbröselte Caspar die Quittung und streute die Schnipsel ins Ofenfeuer. Er meinte: Eine Margarete von Minden muss hier nicht dokumentiert sein.
Margarete lief durch die Gassen von Tangermünde. Was sollte sie beginnen? Der Start war geglückt. Sie war schlagartig eine wohlhabende Frau geworden. Als nächstes brauchte sie Quartier und Aufenthaltsgenehmigung. Sie betrat die Wirtschaft am Markt.
Es waren nur eine Handvoll Leute im Gastraum. Wirt Ulrich schaute auf. Nur eine Frau. Ulrich wartete: Wo bleibt der dazugehörende Mann? Margarete sagte: „Ein Zimmer, bitte.“ Er zauderte: „Wollen wir nicht auf den Herrn Gemahl warten?“ Margarete sprach überzeugend: „Der Herr Gemahl ist in dringenden Geschäften verhindert. Er kommt erst in ein paar Tagen. Inzwischen müssen das Kind und ich hier rasten.“ Ulrich fand das unmöglich. Wenn wenigstens ein Diener dabei gewesen wäre. Er seufzte, wollte ablehnen, da schob Margarete ein blankes Goldstück über den Tresen. Ulrich nahm das Goldstück und rief nach der Magd: „Anna, ein Gast.“ Margarete bekam das Zimmer. Die Magd zündete Feuer im Kamin an, schlug das Bett auf, brachte Wasser und ein Nachtgeschirr. Margarete orderte ein Abendbrot, versorgte das Kind, legte es ins Bett und blieb dann lange am Fenster sitzen. Ein Gedanke verfestigte sich: Das hier ist unser Zuhause. Tangermünde hat uns zwar nicht gerade mit offenen Armen empfangen, aber wir sind auch nicht im hohen Bogen rausgeflogen. Es wird uns gut gehen in dieser Stadt. Ich spüre das. Dreißig Goldstücke sind ein sicheres Omen und ein solides Startkapital. Wir sind reich.
Unten in der Wirtsstube verkrümelten sich die Gäste einer nach dem anderen. Der letzte war der Tagelöhner Tönnies, der sich schon ewig an seinem halben Becher Branntwein festhielt. „Nun, mach, dass Du fertig wirst!“, knurrte Ulrich, „ich will abschließen und Du musst auch raus aus der Stadt.“ Tönnies erhob sich widerwillig, legte dem Wirt einen Groschen hin und knurrte zurück: „Pass‘ auf Deine eigenen Sachen auf! Die Frau musst Du bis morgen angemeldet haben, sonst entziehen Sie Dir die Konzession.“
Wirt Ulrich wusste das. Allerdings war auch er kein besonders reicher Mann. Da ließ er hin und wieder gern mal einen illegal bei sich wohnen. Er knöpfte diesem und jenem die Anmeldegebühr ab, vernachlässigte seine Pflicht und steckte das Salär als Gewinn in die eigene Tasche. Man muss ja sehen, wo man bleibt. Ulrich meinte: Dem Tönnies, diesem Klugschwätzer, kann das egal sein. Der hat hier kein Wohnrecht. Der fliegt nachts raus. Was gehen den fremder Leute Angelegenheiten an? Im Fall des soeben einquartierten Gastes entschied er: Was will mir eine allein reisende Frau? Und kommt der Ehemann, kann ich es immer noch richten. Das Goldstück steckte er ein und hatte die Sache schon vergessen.
Tönnies verdrückte sich.
Auf dem Weg über die freien Felder dachte er: Was mag die fremde Schönheit hier wohl anfangen? Haltung und Auftreten dieser Unbekannten hatten ihm sofort imponiert. Er stellte sich die Szene nochmal genüsslich mit allen Einzelheiten vor: Eine Frau betritt ohne männlichen Schutz die Wirtschaft, verlangt ein Zimmer, bekommt das Zimmer und wird wie ein ganz normaler Gast bedient. Dass ein Goldstück über den Tresen gewandert war, hatte Tönnies nicht gesehen, so konnte er schwärmend am Fantasiebild der stolzen Schönheit festhalten. Er kroch in einen Heuschober und gab sich süßen Träumen hin.
Am Abend saßen sämtliche von Minden gewöhnlich noch lange im Salon beieinander und werteten die Tagesereignisse in gemütlicher Runde aus. Meistens gab es nicht viel zu erzählen, man begnügte sich mit Klatsch und Tratsch. Heute war das anders. Nachdem Caspar in epischer Breite das Auftauchen der Schwägerin geschildert und seine Gegenmaßnahmen erläutert hatte, erwiderte seine Frau Juliana: „Ich halte es für unklug, dass Ihr der Fremden Geld gegeben habt. Damit gesteht Ihr ein, dass sie zu uns gehört. Besser wäre es gewesen, sie sofort mit der Stadtwache fortzuschaffen. Ihr glaubt, sie abgefunden zu haben, in Wirklichkeit habt Ihr sie damit nur angelockt.“ Baltasar und Caspar wehrten brüsk ab: „Was sollten wir denn machen? Sie kennt bis in jede Kleinigkeit unsere Familie. Das war doch keine Fremde. Sie hätte auch Dich davon überzeugt, eine von Minden zu sein.“ Juliana sprach streng: „Man muss sie abweisen, wegschicken, gar nicht auf sie eingehen.“ Die Männer waren betroffen. Hatten sie einen Fehler begangen?
Normalerweise redetet Juliana den Männern nicht ins Geschäft. Sie war dem Haushalt verpflichte und wusste, wie erfolgreich Caspar und Baltasar ihre beruflichen Aufgaben stemmen. Juliana fühlte sich im Schoß der Familie von Minden bestens ausgehoben und sorgte ihrerseits sehr zum Gefallen der Männer mit großer Hingabe für das leibliche Wohl aller Bewohner des Hauses in der Schlossfreiheit.
Juliana blieb äußerlich ruhig. Ihre Seele zog sich krampfhaft zusammen. Der legitime Erbe des Albrecht ist aufgetaucht! Margarete wird doch keine Ruhe geben, dachte sie und: Was würde ich dann tun? Habe ich nicht mit allen Mitteln um die Zukunft meiner Kinder gekämpft?
Wie war es denn gewesen, als Agnes geboren ist? Wie glücklich und stolz präsentierte ich das Kind? Hübsch zurecht gemacht auf silbern besticktem Kissen, im weißen Kleidchen, die rosigen Wangen, die feinen Händchen, der zarte Flaum auf dem winzigen Köpfchen. Wie blöd glotzten die Männer: Vater, Großvater, Urgroßvater. Nur ein Mädchen. Nur ein Mädchen! Freilich, einen kurzen Wimpernschlag lang hatte Caspar seine Tochter angestrahlt. Doch wie die beiden alten Herren ihn wegzogen und frivol geiferten „Du musst noch mal mächtig ran. Ein echter von Minden muss her“, da kehrte sich auch Caspar ab und hatte für das Mädchen keinen Blick mehr.
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