1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Am nächsten Morgen rief der Schmied nach seinem Knecht. Er wurde nicht gehört und betrat forschend der von Minden Kammer. Er gewahrte den Toten und die trauernde Witwe. Ein Toter in seinem Haus! Der Schmied war ein rechtschaffener Mann. Er bestellte den Medicus und ließ den Mann die Todesursache zweifelsfrei feststellen. Inzwischen kamen die neugierigen Nachbarn gelaufen und gafften. Der Medicus untersuchte, dachte nach und gab sicher an: „Wundfieber, mag sein.“ Er ergänzte schonungslos: „Es kann aber auch die Pest wieder grassieren.“
Das Wort „Pest“ zündete wie Schwarzpulver. Augenblicklich orderte der Hausherr Knechte. Der Seuchenschutz oktroyierte völlige Isolierung aller Kontaktpersonen und Abbrennen sämtlicher Gegenstände aus dem Umfeld des Verstorbenen. Die Männer luden den Toten auf einen Karren, schleppten den gesamten Hausrat der von Minden mit hinaus, türmten alles oben drauf, zogen mit der Last vor die Stadt auf freies Feld und legten Feuer an die Ladung. Schaulustige folgten neugierig, gruselig erregt, ängstlich und mitleidig der Vernichtungsaktion. Margarete stand dumpf ergeben dabei. Fast nichts hatte sie behalten dürfen und bei dem ganzen Tohuwabohu war irgendwann auch das Geldsäckchen verloren gegangen. Geduldig nahm sie hin, was nicht zu verhindern war. Margarete sah ihren Hausstand schwinden und den Toten verkohlen. Als aus dem winzigen Häufchen Asche nur noch ein feiner Faden weißgrauen Rauches in den strahlend blauen Sommerhimmel empor stieg, wendete sie sich ab.
Margarete lief und lief. Doch wohin? Möglichst weit weg, denn der Pestverdacht war so leicht nicht auszuräumen. Sie musste eine Gegend aufsuchen, wo sie niemand kennt, kein Gerücht sie verfolgt. Nach einigem Nachdenken entschied sie sich, Jörgen Haffner in Stendal um Hilfe zu bitten. Hatte der Haffner ihr nicht versprochen, ihr in der Not beizustehen? In großer Not war sie ja nun: Sie besaß nur, was sie am Leibe trug, ihr Goldkettchen mit dem Anhänger, der wie eine Krone geformt ist, den Geleitbrief für Gaukler und das kleine Büchlein mit der Familienchronik.
Am späten Abend des 1. August 1614 langte Margarete nahe Stendal an. Die Tore waren schon geschlossen. Sie lagerte wie andere Ankömmlinge am Fuße der Stadtmauer und wartete auf den nächsten Morgen. Sie überlegte, wie sie am besten in die Stadt hineinkommt. Ihr Geleitbrief als Gauklerin nutzte ihr diesmal nichts, denn in ihrem Zustand konnte sie sich nicht als Schauspielerin oder Artistin ausgeben. Unweigerlich würden strenge Verhöre bei der misstrauischen Stadtwache über ihre Ziele und Beweggründe folgen. Sie lief Gefahr, als Obdachlose abgewiesen zu werden. Am Morgen nutzte sie den Moment des größten Verkehrs und schlüpfte, sich geschickt duckend und wendend, unkontrolliert zwischen herein und heraus strömenden Menschen und Wagen in die Stadt.
Die Haffners, Jörgen und seine Frau Ottilie, empfingen Margarete mit offenen Armen. Sie waren erschrocken über Margaretes Zustand. Die war in anderen Umständen und restlos heruntergekommen. Jörgen ordnete an: „Ein Bad, frische Kleidung und Essen!“ Seine Frau und die Knechte tummelten sich. Margarete nahm die Zuwendung dankbar an.
Haffner selbst ging aufs Rathaus und meldete die Ankunft seiner Base an. Der über jeden Zweifel erhabene Ruf des Scharfrichters legitimierte den Aufenthalt der Margarete von Minden in der Stadt.
Allmählich erholte sie sich von den Strapazen der Reise und von der niederschmetternden Tatsache, dass ihr Mann verstorben war. Zug um Zug erfuhren die Haffners, was die Frau in den letzten Jahren erlebt hatte, und mit tiefem, ehrlich empfundenem Mitgefühl beschlossen sie, Margarete dauerhaft in ihr Haus aufzunehmen.
Dabei ging es im Hause der Haffners jetzt schon ziemlich eng zu. Neben Vater und Mutter, drängten sich zwei Knechte, Artur und Marcus, und Haffner junior, Otto, in den Räumen.
Haffners Beruf brachte nicht so viel ein, dass er hätte üppig leben oder sich ein größeres Haus bauen können. Die Entlohnung eines Scharfrichters ging nach Leistung: Jeder Fall bringt je nach Länge des Verhörs und nach der Art der eingesetzten Mittel entsprechend einer festgesetzten Taxe ein bestimmtes Salär ein. Haffner hatte seinerzeit das Handwerk vom Vater geerbt. Ganz natürlich reihte sich der junge Jörgen in die Familientradition ein. Er überführte Missetäter und tötete sie. Er beherrschte sein Fach und den Sittenkodex. Sein Amt war eine Wohltat für die friedlichen Bürger und das Gemeinwesen. Allerdings ist ein Scharfrichter immer auch ein Richter. Er hat Recht von Unrecht zu unterscheiden, jeglicher Willkür Einhalt zu gebieten. Wenn der Scharfrichter die Tortur anwendet, will er die Wahrheit zu Tage fördern oder bekehren, nicht aber ein vorgefertigtes Urteil bestätigt wissen. Haffner stieß irgendwann auf: Da werden Leute abgeurteilt und dem Feuertod übergeben, die nichts aber auch gar nichts verbrochen haben. Ein Scharfrichter spürt, ob einer die Wahrheit sagt oder nicht. Er kennt seine Pappenheimer. Den Haffners blieb im Getriebe der willkürlich gebrauchten staatlichen Gewalt nur eins: Den Delinquenten unter der Folter und im Feuer Milde zukommen zu lassen. Sicher gibt es unter den Scharfrichtern auch Sadisten. Ganz sicher. Aber die meisten Genossen seiner Gilde, wusste Jörgen, arbeiten im Beruf, weil sie ihn geerbt und nichts anders gelernt hatten. Da bleibt nur, Gnade vor dem so grausam wütenden Recht zu üben: Mit einem Narkotikum oder einem Halluzinogen verschafft er dem Gepeinigten Wohltat, kürzt das Prozedere ab, erleichtert sein Gewissen und versperrt sich damit selbst unweigerlich den Weg zu Wohlstand. Ganz selten kam dem Haffner mal ein Fall unter die Hände, da er ruhig die Tortur nach allen Regeln der Kunst anwenden und damit auch kräftig verdienen konnte.
Kurz und gut: Die Haffners gewährten der mittellosen Margarete Kost und Logis, obwohl sie selbst nichts im Überfluss hatten.
Völlig sorglos sah Margarete der Geburt ihres Kindes entgegen. Als Heilerin war sie mit den natürlichen Gegebenheiten von Schwangerschaft und Niederkunft vertraut. In der freundlichen, offenen Atmosphäre des Haffner-Hauses war es eine wahre Lust ein Kind zu zur Welt zu bringen, zumal der Hausherr sich selbst wie ein werdender Vater oder Großvater benahm. „Mädel, Du musst uns ein Mädchen schenken“, beschwor sie Jörgen gutgelaunt, „wir haben hier schon genug Männer im Haus. Ein Mädchen würde mal ein gewisses Gleichgewicht herstellen.“ Margarete ging frohsinnig auf die Rede ein: „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Sie lachten und scherzten. Es war ihnen wohl zumute. Ottilie vertrieb den Sohn aus seinem Bereich und richtete ein Mutterstübchen für Margarete ein. Otto knurrte: „Alles für Margarete und nichts für mich.“ Die Mutter besänftigte den Halbwüchsigen: „Aber wenn Du ein Brüderchen bekommst, ist es auch nicht so schlecht.“ Otto, der absolut keinen Plan hatte, was er mit einem frisch geborenen Brüderchen anfangen sollte, gab gutwillig nach und räumte seine persönlichen Sachen in Arturs und Marcus‘ Wohnraum.
Am Abend eines Freitags Mitte September zog sich Margarete auf ihre Kammer zurück. Die Wehen hatten eingesetzt. Geduldig wartete sie, was sich ereignen würde. Wie die Kontraktionen sich allmählich verdichteten, vermerkte die Frau mit Befriedigung, dass es gut vorwärts geht. In der Nacht ließen die Wehen nach. Margarete wusste auch das richtig zu bewerten: Das Kindchen muss sich den Weg ja erst bahnen, da sind Ruhezeiten im Geburtsverlauf durchaus normal. Sie schlief darüber ein. Am Sonnabendvormittag setzten die Wehen wieder stärker ein, Kontraktion auf Kontraktion folgte. Die Kreisende atmete tief in jede Wehe hinein, gab sich vollkommen der Naturgewalt hin, allein ihr Körper wollte sich nicht öffnen. Das ging so Stunde um Stunde bis zum späten Nachmittag. Das kostete Kraft. Das erschöpfte die Frau. Sie streckte sich ermattet auf dem Bett aus und verspürte eine weitere Pause im Geburtsverlauf. Die sorgenvoll hereinschauende Hausfrau fand Margarete ruhig, aber totenblass mit spitzer Nase und tiefen Augenringen auf dem Lager liegend und fragte sorgenvoll: „Margarete, was ist Dir?“ Die Kreisende erklärte mit wenigen Worten, wie sie sich befand. Das ist nicht in Ordnung, konstatierte Ottilie Haffner, ging hinaus und rief nach dem Hausherrn.
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