Ich ging mit dem Telefon aus dem Studio.
„Ja, bitte?“, meldete ich mich.
„Die Fotos sind scheiße!“, hörte ich eine tiefe Stimme sagen.
„Wie bitte? Welche Fotos? Wer zum Teufel ist da?“
Ich war ins Freie getreten, lehnte mich an die Wand, klemmte mir das Telefon zwischen Wange und Schulter und suchte meine Zigaretten.
„Was wollen Sie von mir?“
„Carmen. Sie haben die Fotos von Carmen verschissen!“
„Ich?“, entfuhr es mir. „Ich soll die Fotos von Carmen verschissen haben?“
„Ganz genau! Und ich will, dass Sie es noch einmal versuchen!“
Wer immer der Typ auf der anderen Seite der Leitung auch sein mochte, er hatte die Ruhe weg. Seine Stimme war sonor, ruhig, angenehm wie die eines Radiosprechers nach Mitternacht, der aus einem Buch von Stefan Zweig vorlas.
„Hören Sie, ich habe überhaupt kein Interesse ...“
„Nein! Sie hören jetzt zu!“, unterbrach er mich knapp. „Die Bilder, die Sie mir geschickt haben, sind völlig wertlos für mich. Was man von Ihrem Honorar nicht gerade behaupten kann, oder?“
„‚Gut, es reicht!“
Ich war fassungslos, spielte mit dem Feuerzeug in meiner Hand.
„Von mir aus können Sie Ihr Geld zurückhaben. Ich weiß selbst, dass ...“
„Vergessen Sie das Geld. Ich will es nicht zurück! Ich will die Bilder, die ich bei Ihnen bestellt habe, sonst nichts!“
Die Bestimmtheit, mit der er das sagte, ließ mich einfrieren. Ich war fasziniert von der Stimme, die mir gerade Befehle zu geben schien.
„Ich bin sogar bereit, noch mehr Geld zu investieren.“
„Hören Sie, es geht mir nicht ums Geld. Wie Sie schon selbst gesagt haben, geht es um Carmen!“
Ich hatte mich wieder gefasst. Eine Zigarette dampfte in meinem Mundwinkel.
„Sie ist kein Model und wird auch nie eines sein. Verstehen Sie, es gibt Menschen, die sind einfach nicht gut vor der Kamera. Nicht fotogen! Haben Sie schon einmal davon?“
„Tun Sie sich selbst einen Gefallen und halten mich nicht für naiv!“
Wieder dieser Befehlston. Ich sog an meiner Kippe.
„Ich weiß, dass Carmen nicht gut war und glauben Sie mir, ich habe Ihr das auch eindringlich klar gemacht. Allerdings hatte ich mir von Ihnen wesentlich mehr erhofft. Ich bin sehr angetan von Ihrer Fotographie. Ich habe nicht umsonst Sie ausgesucht, um mir diese Serie machen zu lassen. Ich dachte, Sie könnten ihr vermitteln, worum es geht und eine Stimmung erzeugen, die Carmen die Möglichkeit geboten hätte, mehr aus sich heraus zu gehen. Das haben Sie ganz offensichtlich nicht geschafft und ich gebe Ihnen die Möglichkeit, es noch einmal zu probieren. Sie sollten wissen, dass ich nicht immer so entgegenkommend bin. Ich bin es gewöhnt, dass man mir liefert, was ich bestellt habe!“
Schweigen!
Ich war zu verwirrt, um schlagfertig zu sein, überlegte kurz, ob ich einfach auflegen sollte. Aber irgendwie hatte ich etwas Bedrohliches aus seinem letzten Satz herausgehört, unterschwellig nur, aber eindringlich genug. Langsam kamen mir meine Worte aus dem Mund.
„Wer zur Hölle sind Sie und was erwarten Sie von mir? Sie schicken mir eine sehr hübsche, aber völlig untalentierte junge Frau hierher, zwingen mich, sie ohne meine Mitarbeiter zu fotografieren und erwarten sich was genau? Das läuft nicht so, das funktioniert nie, okay? Was immer ich auch getan hätte, Carmen wäre dadurch nicht in Stimmung gekommen, wie Sie es genannt haben. Sie kann es einfach nicht! War das deutlich? Und ich lasse mich auch nicht bedrohen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich werde ihre Carmen nie wieder fotografieren, kein Interesse!“
„Sie werden Carmen fotografieren. Aber nicht die Carmen, an die Sie sich erinnern. Sie werden sie nicht wiedererkennen. Ich werde ihr lernen, was sie zu tun hat. Ich werde ihr beibringen, das zu tun ist, was Sie von ihr wollen. Und Sie werden zufrieden sein, das garantiere ich. So läuft das. Wann?“
Ich konnte es kaum glauben.
Was für ein Schwachsinn!
Was für eine Frechheit!
„Sie sagen mir jetzt sofort, wer Sie sind“, zischte ich in den Apparat, „oder diese Unterhaltung ist beendet!“
„Meine Identität tut nichts zur Sache, aber wenn Sie so wollen, bin ich Carmens Gönner. Ich sorge für sie, nicht ganz selbstlos. Und ich bin Ihr äußerst unzufriedener Auftraggeber. Deshalb sage ich es Ihnen ein letztes Mal noch in einem freundlichen Ton. Machen Sie mir die Bilder, die ich haben wollte und ich bin bereit, das Honorar noch einmal zu verdoppeln. Im Voraus, wie letztes Mal.“
Da stand ich nun, auf dem Gehsteig der Ohmstraße in Schwabing, mit einem Verrückten am Telefon, dessen Stimme mich zwang, ihm zuzuhören und dessen Angebot zu gut war, um es auszuschlagen.
Lange Zeit schwiegen wir beide.
Dann, als ich mir ausgemalt hatte, was ich mit den zusätzlichen Einnahmen alles anstellen konnte, brach mein Widerstand.
„Samstag, 14:00 Uhr bei mir im Studio. Kommt Carmen allein?“
„Ja.“
„Sie soll das Geld mitbringen. Kaufen Sie ihr ordentliche, ansprechende Kleidung.“
Ich legte auf, atmete tief durch, nahm hastig die letzten Züge meiner Zigarette und ging zurück ins Studio.
„Alles klar?“, fragte Laura mich. „Wer war das?“
„Ein Verrückter!“, antwortete ich knapp.
„Wie?“
„Vergiss es, Laura. Es geht dich nichts an, wer das war!"
„Hey, sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten. Du wirkst nur ein bisschen ...“
„Schon gut“, unterbrach ich sie. „Können wir weitermachen. Michelle? Seid ihr soweit mit dem Model?“
Nach dem Fotoshooting kam Laura zu mir. Ich ließ sie gar nicht zu Wort kommen.
„Entschuldige, ich wollte vorhin nicht unfreundlich sein.“
Ich kannte Laura schon lange.
Sie hatte als Produktionsassistentin bei einer kleinen Agentur begonnen, eines Tages stand sie dann auf einem meiner Sets und war mir sofort sympathisch. Sie machte ihren Job hervorragend, war stets hilfsbereit und nicht aus ihrer Ruhe zu bekommen. Einen großen Anteil an dem Reiz, der von ihr ausging, hatte ihr fast unendliches Stilbewusstsein. Sie war gerade einmal 28 Jahre alt, eine Grafikstudentin ohne Abschluss und doch auf eine natürliche Art selbstbewusst. Sie war immer perfekt gekleidet, aufreizend und doch alltagstauglich, nie zu viel geschminkt und doch immer so, dass man sie ohne weiteres vor eine Kamera hätte stellen können. Immer freundlich und zuvorkommend, ohne schmeichlerisch sein zu wollen, immer am Punkt mit ihrer Meinung und jederzeit bereit, zu lernen.
Irgendwann später war es ihr sogar gelungen, die hierarchisch weitaus höher gestellten und für gewöhnlich sehr um ihre Ausstrahlung und Erotik bemühten Agenturmädels einfach an die Wand zu spielen.
Und jetzt musste ich meiner Assistentin von Carmen erzählen.
„Also, ich habe letztes Wochenende etwas getan, was ich nicht hätte tun sollen. Vor zwei Wochen ungefähr hat mich jemand angerufen, ein Kunstsammler, oder zumindest jemand, der sich als solcher ausgab. Er wollte Drucke von mir kaufen und ich verwies ihn an unsere Galeristin. Doch dann machte er mir sehr unvermittelt ein Angebot.“
„Was für eins?“
Ich fischte die Zigarettenschachtel von meinem Schreibtisch, bot Laura auch eine an und gab uns beiden Feuer. Wir setzten uns.
„Er bat mich, Bilder extra für ihn zu schießen, eine Auftragsarbeit also. Dann nannte er eine Summe Geld, die hoch genug war, um dafür Gesetze zu brechen. Also nahm ich an, ohne zu wissen, was mich erwarten würde.“
„Aha! Man kann dich mit Geld noch reizen? Wie sehr? Was musstest du dafür tun?“
„Ich musste Carmen fotografieren.“
„Wer zur Hölle ist Carmen?“
„Wenn ich das wüsste! Ich weiß eigentlich gar nichts. Der Typ hat sich bis heute nicht vorgestellt, hat mir nicht gesagt, wofür er die Bilder haben möchte und nur angedeutet, in welcher Beziehung er zu Carmen steht. Er sagte lediglich, er wäre ihr Gönner, was immer das auch bedeuten mag.“
Читать дальше