Fieberhaft arbeitete sie. Ihre Finger flogen. Die Gedanken noch mehr. Und dann endlich ertönte die erlösende Glocke.
Wie durch Zauberhand standen alle Maschinen still. Ein Aufseufzen ging durch die Halle. Im nächsten Augenblick stürzten alle Arbeiterinnen und Arbeiter zur Tür. Im Pulk der anderen drängte Clara die Treppe hinunter, ihren Korb am Arm. Ein Stau bildete sich, weil auch aus der Halle im Erdgeschoss die Mädchen, Frauen und Männer quollen, ein Schieben und Drücken, dann endlich war sie im Freien. Tief atmete Clara auf. Luft! Kalte, klare Winterluft, in der schon ein Hauch von Vorfrühling lag. Die Sonne schien in den Hof und brachte die letzten Schneereste zum Schmelzen.
Auf einer aus ein paar Steinen und Brettern errichteten provisorischen Bank ließ Clara sich nieder und hüllte sich in ihr warmes Umschlagtuch.
Sie blinzelte gegen die Sonne. War da drüben nicht Franz? Wie er dort stand und sich die Mütze aus der Stirn schob … Ihr Herz schlug schneller, ob sie es wollte oder nicht.
Zwei andere junge Arbeiter kamen aus dem Fabrikgebäude, gingen auf Franz zu. Gemeinsam verließen die drei den Hof. Die jungen Männer, die hatten Geld, die verdienten ja das Doppelte von dem, was sie verdiente, und gaben aus, was sie hatten. Die brachten sich nicht ihr Essen mit in die Fabrik, sondern gingen zu einem privaten Mittagstisch oder in eine Kneipe, wenn es nach Hause zu weit war, und aßen Fleisch und tranken Bier. Und konnten sich sogar leisten, zwei Mädchen in die Bierhalle einzuladen. Aber im Grunde waren sie nur an einer interessiert, die ihnen alles zeigte, was sie hatte – und die vor allem mehr tat, als es nur zu zeigen. Ach, was sollte es! An Franz noch einen Gedanken zu verschwenden, lohnte ja doch nicht. Clara hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen ins Licht. Die Sonne brannte alle Gedanken weg, bis nichts mehr da war außer diesem Rot, das hinter ihren Lidern flimmerte.
Wohlig streckte sie die Beine von sich. Sie war froh, dass der Weg nach Hause zu weit war, um ihn in einer Stunde Mittagspause hin und her zurückzulegen. So erwartete die Mutter nicht, dass sie mittags heimkam.
Endlich einen Augenblick ausruhen, genießen. Frische Luft atmen. Und endlich wieder fühlen, dass man lebte.
Langsam kroch ihr die Kälte von den Füßen aufwärts unter den dünnen Rock, biss ihr in die Haut. Sie schlang die Arme um den Oberkörper, zog das Umschlagtuch fester, rieb sich die Schultern. Obwohl sie immer stärker fror, blieb sie sitzen. Wie ruhig es war. Kein Maschinenlärm mehr, keine Stimmen, nur das Tschilpen der Spatzen.
Wie früher daheim in Schlesien. Immer so bleiben.
Als sie sich schließlich vor Kälte zitternd erhob, war der Hof leer. Clara machte sich zum »Speisesaal« auf, einem düsteren Raum im Kellergeschoss der Fabrik, in dem die Dampfmaschine stand. Widerstrebend stieg sie die Stufen hinunter. Wäre nur endlich Frühling, dass man wieder die ganze Mittagspause im Freien verbringen könnte!
Sie stieß die Tür auf. Stickige Wärme, ein übles Gemisch der verschiedensten Gerüche, Tabakqualm, Kohlenstaub und lautes Stimmengewirr schlugen ihr entgegen. Der Raum war so düster und dunsterfüllt, dass ihre sonnengeblendeten Augen kaum etwas sahen. Fast blind bahnte sie sich den Weg zwischen den langen Bänken hindurch und an den Kohlehaufen vorbei zum vor Hitze glühenden Heizkessel der Dampfmaschine und stellte ihre Blechkanne darauf. Dann ließ sie sich auf dem nächsten freien Platz an einem der rußgeschwärzten Holztische nieder, an dem mehrere junge Mädchen saßen.
»Na, Clara, hast du heut wieder nur Kartoffeln?«, fragte Olga.
Clara hatte nicht gemerkt, dass sie sich ausgerechnet neben die gesetzt hatte. Doch jetzt aufstehen und sich einen anderen Platz suchen, das ging nicht.
»Und Kaffee«, erwiderte Clara, »aber den mach ich grad heiß.« Vor einer wie Olga ließ sie sich nicht anmerken, dass sie auch gern mal etwas anderes zu essen hätte. Sie begann die Pellkartoffeln zu schälen.
Sorgsam bewahrte sie die Schalen in einem Stück Zeitungspapier auf. Die kleinen Brüder würden sich freuen, wenn sie die ihnen auf der Herdplatte röstete und mit etwas Zucker bestreute – die einzige Nascherei, die es daheim gab.
»Da, darfst mal mit eintauchen«, erklärte Olga und schob ihr das Blechgeschirr hin, in dem cremig gerührter Quark Clara verheißungsvoll anlachte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie wollte ablehnen, aber sie brachte es nicht fertig, fuhr mit ihrer Kartoffel in den Quark. Wie kühl und frisch das schmeckte. Ob sie wohl noch einmal durfte? Aber ausgerechnet von Olga …
Rasch stand sie auf und holte ihre Kaffeekanne vom Heizkessel. Sie trank und trank. Süß und herb zugleich rann das heiße Getränk aus Kaffee-Ersatz durch ihre Kehle. Drei gehäufte Esslöffel Zucker hatte sie hineingemischt. Zucker zum Kaffee aus Zichorienwurzel war der einzige Luxus, mit dem die Mutter nie knauserte – und wenn man beim Kaufmann dafür anschreiben lassen musste. Wie ließe sich auch sonst ein Arbeitstag von morgens um sechs bis abends um sechs durchstehen?
»Clara hat heut eine Einladung zur Berliner Weiße ausgeschlagen!«, verkündete Olga den anderen. »Franz wollte sie mit mir gemeinsam in die Bierhalle ausführen. Aber Clara will nicht. Was sagt ihr dazu?« Olga lachte.
Clara stieg das Blut in den Kopf. Dennoch zuckte sie die Schultern und versuchte gleichfalls ein Lachen. »Na und! Ich mach mir nichts aus ihm.«
»Da hör mal eine an«, schaltete sich Emmi ins Gespräch ein, ohne ihren Strickstrumpf sinken zu lassen. »Wo er doch gar nicht schlecht aussieht! Schultern hat der und Muskeln, die könnten mir schon gefallen. Und wenn er so die Mütze zurückschiebt – der hat das gewisse Etwas, da gibt's nichts. So einen lässt man doch nicht stehen! Oder hast du am Ende längst einen Bräutigam, Clara, und wir wissen nichts davon?«
»Was, Clara hat einen Bräutigam? Und, was ist? Wie ist er? Jetzt aber los, erzähl!«, riefen die anderen Mädchen und beugten sich vor.
»Was ihr nur habt«, wehrte Clara ab.
V on Stunde zu Stunde wurde die Luft dumpfer. Wenn man wenigstens einmal einen Schluck Wasser trinken dürfte! Aber die Arbeit an der Spinnmaschine duldete keine Unterbrechung. Der Nachmittag – fünf Stunden am Stück – nahm kein Ende.
Wie benommen tat Clara ihre Arbeit. Eben noch hatte das Anspinnen für eine neue Partie eine gewisse Abwechslung gebracht. Da musste man sich zwar beim Abnehmen und Einsortieren der aufgespulten Garnkörper, der Kötzer, beim Aufstecken frischer Papierhülsen auf die Spindeln und beim Anlegen der neuen Fäden auch beeilen, aber man konnte es wenigstens im eigenen Rhythmus machen, musste sich nicht an die Bewegung der Maschine anpassen und nicht auf dieses wirbelnde Spiel starren. Doch nun hatte sie wieder das Spinnen zu überwachen. Mechanisch erfüllten die Finger ihre Aufgaben, ganz von selbst registrierten die Augen jede Störung, unwillkürlich reagierten ihre Muskeln. Immer dasselbe. Der Lärm schien zuzunehmen, lauter und lauter zu werden. Unerträglich dröhnte er in den Ohren und wollte ihren Kopf schier zersprengen. Schultern und Rücken schmerzten, die Beine waren schwer, die Zehen taten weh. Mehr als einmal hatte sie sich diese an den auf den Boden geschraubten Eisenschienen gestoßen, auf denen der Wagen fuhr. Und noch mehr als zwei Stunden bis zum Feierabend.
Kein Blick mehr für Franz. Nur noch dies eine: aushalten, durchhalten! Da plötzlich schepperte die Glocke. Und die Maschine stand still. Einen Augenblick wurde Clara schwarz vor Augen. Taumelnd hielt sie sich am Wagen des Selfaktors fest. Dann schaute sie zur Wanduhr: Erst vier.
Stimmen erhoben sich, fragten nach dem Grund der Unterbrechung. Der Oberaufseher rief laut: »Schluss für heute! Der Herr Direktor hat Kurzarbeit angeordnet. Täglich neun Stunden, dabei bleibt es fürs Erste. Morgen früh wieder um sechs! Und jetzt gründlich den Arbeitsplatz aufgeräumt und reinegemacht! Vorher verlässt keiner die Fabrik.«
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