Bei der Vorstellung nennt Frau Weißwasser die Namen der am Tisch sitzenden elf Kolleginnen und zwei Kollegen mit den jeweiligen Unterrichtsfächern. Die Vorstellungsrunde erfolgt im Uhrzeigersinn. Dabei hebt die Direktorin Frau Dr. Grosser hervor, die sich durch ihr blasses Gesicht mit den reloluten Zügen und dem weißen Haar auszeichnet und die älteste Kollegin an der Schule ist und seit siebzehn Jahren die Fächer Deutsch und Geschichte in der Mittel- und Oberstufe unterrichtet. Als vorletzten Kollegen erwähnt Frau Weißwasser den Studienassessor Klein, der am rechten Ende der Tischseite gegenüber sitzt. Der Assessor ist der Jüngste in der Tafelrunde, der den Dienst vor fünf Monaten angetreten hat und die Fächer Mathematik und Physik unterrichtet. Herr Klein steht bei Nennung seines Namens auf und schickt ein Lächeln der Direktorin, die es ihm in abgemilderter Form erwidert. Adele fällt auf, dass sein Name mit der körperlichen Kürze auf das Vollkommenste übereinstimmt.
Nach Beendigung der ersten Runde bittet Frau Weißwasser die eben vorgestellte neue Lehrkraft, einen kurzen Abriss aus ihrem Leben und Studium zu geben. Die Augen des Kollegiums richten sich mit dem Ausdruck des erhöhten Interesses und der Sympathie auf Adele, die sich auf einigen Gesichtern zum Lächeln der Zustimmung steigert, als sie erwähnt, dass ihr Vater der Missionspfarrer Peter Bardenbrecht ist, der durch seine Tätigkeit für die Waisenkinder und Gestrandeten einen geachteten Namen erarbeitet hat. Adele spricht von ihrer guten Kindheit in einer intakten Familie, wo Vater und Mutter zusammenstehen und die Probleme des täglichen Lebens mit den Brandungen mit vereinten Kräften angehen. Sie sagt, dass es der tiefe Glaube ihrer Eltern sei, der ihnen die Stärke gab, dass die Familie nicht an den Schlagwellen der großen Stürme zerbrach.
Adele erwähnt die Studienjahre an der Universität, in denen sie die Fächer klassische Philosophie, Latein und Französisch belegt und mit guten Prüfungsnoten abgeschlossen habe. Was sie nicht erwähnt, ist der Unfall in Österreich mit dem Schädelhirntrauma und der Kopfoperation in Innsbruck, den danach aufgetretenen epileptischen Anfällen und der zweiten Operation zur Entfernung eines Hirnhauttumors. Ungenannt bleiben auch die Beziehung mit dem Studenten Klaus Korn und der Schwangerschaft mit der Frühgeburt. Die Kurzehe mit dem jungen Elektro-Ingenieur Etienne Marcel behält sie für sich und so die Existenz des mongoloiden Simon, der aus dieser Kurzehe hervorgegangen ist.
Dem Kurzvortrag folgt eine Diskussion, in der sie unter anderem nach ihrem einjährigen Frankreichaufenthalt befragt wird. Es ist die Studienrätin Elgin, eine Mittvierzigerin mit blauen Augen, einer Brille auf dem schmalen Nasenrücken und den Grausträhnen im dunkelblonden Haar, die seit neun Jahren Englisch an der Oberstufe unterrichtet. Sie fragt, ob der Frankreichaufenthalt der Sprache galt oder noch andere Gründe hatte. Hier setzt Adele Bardenbrecht den Sprachpunkt obenan und sagt, dass ihre Sprachkenntnis und Ausdrucksfähigkeit durch das praktische Jahr in Frankreich die wesentliche Erweiterung und Vertiefung brachte. Bezüglich des zweiten Teiles der Frage, ob es noch andere Gründe für den Frankreichaufenthalt gab, sagt Adele, dass sie einige Freundschaften geschlossen habe, was der Wahrheit nicht entspricht und die in Brüche gegangene Kurzehe mit Etienne Marcel verbergen soll. Als würde er die Unebenheit in der Beantwortung des zweiten Teiles ahnen, fragt der kurzgewachsene Studienassessor Klein, ob die Erweiterung der Sprachkenntnis mit der Vertiefung der Ausdrucksfähigkeit nicht auch in der Bundesrepublick hätte erzielt werden können, wo es genügend Franzosen und französische Sprachinstitute gibt. “Das mag sein. Doch besser als die Sprache im Land ihrer Herkunft zu sprechen, kann es doch nicht sein”, erwidert Adele. Darauf stellt Studienassessor Klein keine weitere Frage.
Oberstudiendirektorin Weißwasser schließt das Vorstellungsgespräch, nachdem keine weiteren Fragen vom Kollegium der Tafelrunde kommen. Sie teilt der Kollegin Bardenbrecht mit, dass sie in der kommenden Woche, der ersten Maiwoche, mit ihrem Unterricht beginnen kann. Sie könne sich das Französisch-Buch bei ihr im Direktorat abholen, wo sie, Frau Weißwasser, ihr zeigen werde, wo der momentane Klassenstand ist, beziehungsweise mit welcher Lektion der Unterricht samt den grammatischen Übungen fortzusetzen ist. Es werden noch technische Dinge in der Änderung des Stundenplans für die Klassen der Oberstufe besprochen, die mit Eintritt von Frau Bardenbrecht in den Schuldienst notwendig geworden sind. Damit geht die Nachmittagsbesprechung zu Ende, und Direktorin Weißwasser dankt den Kolleginnen und Kollegen für ihr Erscheinen.
Adele Bardenbrecht folgt der Direktorin zum Direktorzimmer, wo Frau Weißwasser ihr das Französisch-Buch überreicht und auf die Lektion in etwa der Mitte des Textbuches verweist, wo der Unterricht abgebrochen ist und fortgesetzt werden soll. “Ziehen Sie sich das Buch zu Gemüte. Sie haben noch eine halbe Woche Zeit, sich mit dem Stoff vertraut zu machen”, sagt Frau Weißwasser. Adele fragt, ob der Unterricht bisher in der französischen Sprache gehalten wurde. Die Direktorin ist sich da nicht sicher. Sie schlägt aber vor, es in Zukunft zu tun. Adele ist derselben Meinung, was der Festigung der Fremdsprache außerordentlich dienlich ist. So verabschieden sich beide im guten Einvernehmen. Die Direktorin begleitet Frau Bardenbrecht im forschen Gang zur Tür zum Sekretariat und wünscht ihr für die neue Arbeit viel Erfolg.
In den folgenden Tagen macht sich Adele mit dem Französisch-Buch vertraut. Die Texte und grammatischen Übungen findet sie leicht. Die Texte sind zum Teil den Zeitungsartikeln entnommen, die sich mit der Geschichte und den politischen und kulturellen Ereignissen in Frankreich befassen. Adele stellt sich vor, dass der Unterricht lebendiger und für die Allgemeinbildung informativer wird, wenn das Lesen auf die Artikel in den französischen Zeitungen wie ‘Le Monde’ gerichtet wird. Dem Lesen soll eine Diskussion zum Inhalt des Artikels folgen, die in der Sprache des Artikels geführt wird. So bekommt das Fach eine aktuelle und lebendige Note. Adele kauft die ‘Le Monde’ am Zeitungsstand im Bahnhof und macht vom Leitartikel zwanzig Fotokopien am Kopiergerät im Haus der Inneren Mission. Der ausgewählte Artikel bringt den Vorschlag zum weltweiten Moratorium der Atomrüstung und Atomwaffenarsenale, vorgetragen vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy am Ende seiner europäischen Ratspräsidentschaft. Ein aktuelles Thema, das von globaler Bedeutung ist.
Ein anderer Artikel auf der dritten Seite befasst sich mit der Geschichte des gewählten neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der noch vier Wochen davon entfernt ist, die Amtsgeschäfte von George W. Bush am 20. Januar 2009 zu übernehmen. Der Artikel hebt die Frage dick in die Überschrift, wie der neue Präsident die Wirtschaft aus der Rezession herausholen und auf den Terrorismus und die Krisenherde in Irak und Afghanistan reagieren wird. Auch dieser Artikel ist von hoher Brisanz, wenn auch Adele von Fotokopien dieses Artikels zunächst absieht.
Sie spricht ihre schulischen Vorbereitungen mit den Eltern durch, die erleichtert und erfreut sind, dass Adele eine Lehrstelle am Augusta-Gymnasium gefunden hat, weil das väterliche Einkommen als Missionspfarrer doch klein ist, um die Existenz der Familie mit dem kleinen mongoloiden Simon in bescheidenen Grenzen zu erhalten. Seit langem wird auf Dinge verzichtet, die keine Luxusdinge sind, um genug Speise auf den Tisch zu bringen und die nötige Kleidung zu beschaffen. Mutter Brigitte hat es wiederholt gesagt, dass sie gerne die französische Sprache lernen würde. Sie fragt die Tochter, ob sie nicht etwas von ihrer Zeit erübrigen könne, um ihr zu Hause den Unterricht zu geben. Sie als Mutter wolle fleißig die Vokabeln lernen und die Aufgaben erledigen, um die Tochter nicht zu enttäuschen. Adele lächelt und meint, dass sich das an den Abenden schon machen ließe. “Dann halten wir uns aber nicht lange bei der Vorrede auf”, drängt die Mutter, worauf Vater Bardenbrecht ein erstauntes Gesicht macht und sagt: “Brigitte, du gehst ja heran wie Blücher.” Adele fügt hinzu, dass dann bald französisch zu Hause gesprochen werden wird. “Mir ist das gute Deutsch doch näher”, erwidert Vater Bardenbrecht. Darauf meint Mutter Brigitte, dass eine Fremdsprache noch nie den Horizont eingeengt hat. “Eingeengt nicht, aber getrübt”, setzt Vater Bardenbrecht mit einem Lächeln hinterher.
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