„Komm herein, Junge“, öffnete der alte Wirz die Türe. „Setz dich.“
„Ich hab’s eilig.“
„Ist schon komisch. Ihr jungen Leute, die ihr alle Zeit der Welt habt, habt es immer eilig. Wohingegen wir Alten, die wir bald sterben, alles mit Musse tun.“
„Der Bischof schickt mich, Wirz. Ich persönlich wäre heute lieber zuhause geblieben.“
„Ja, ja, schon klar. Also. Gehn wir.“
Das kleine Ruderboot wurde umgedreht, ins Wasser gelassen und geentert, während der Regen fröhlich weiterprasselte. Wirz ruderte, was ihn schön warm hielt, Furdin tat nichts, was ihn völlig durchgefroren in Oberzell auf der Insel Reichenau ankommen liess. Nachdem er die Überfahrt bezahlt und sich vom Fährmann verabschiedet hatte, marschierte er zügig am Fusse des Hügels entlang, auf dem die Pilgerkirche Sankt Georg thronte, liess die abgelesenen Weinhänge, die sich bis zur höchsten Erhebung der Insel ausbreiteten, links liegen, passierte Felder, die teils abgeerntet, teils noch voller Gemüse, vor allem Lauch, Kohl und Rettich, waren und gelangte nach mehr als einer gefühlten halben Stunde - zu dieser Jahreszeit wurden die Stunden kürzer gerechnet als im Sommer - endlich nach Mittelzell und ins Kloster Reichenau.
„Furdin! Was tust denn du hier bei diesem Wetter?“, liess ihn Pförtner Genz ein.
„Ich will den entfernten Verwandten Konrads besuchen. Euren Schüler Stefan.“
„So, so. Was willst du denn von dem?“
„Ich soll ein bisschen schauen, wie es ihm so geht hier bei euch. Ob er was dazulernt.“
„Das will ich doch stark hoffen, dass der Junge hier was dazulernt. Willst du einen Becher heisse Gemüsebrühe? Du siehst ziemlich verfroren aus.“
„Ja gerne.“
„Dann komm mit ins Refektorium. Stefan kannst du später treffen.“
Eine Tagesreise entfernt, wenigstens für solche, die zu Fuss wanderten, löffelte Cellerar Fidibus im Gästehaus des Klosters Sankt Gallen seinen zweiten Topf Hafergrütze, während ihm gegenüber eine der Damen aus dem Stift Quedlinburg sass und an ihrem mit wenig Alkohol versetzten Morgenbier nippte.
„Die Reichenauer Mönche haben ein Problem, Fidibus, glaub es einfach“, versuchte Marie ihren alten Bekannten zu überzeugen.
„Wieso sollten die ein Problem haben?“
„Die müssen anscheinend sparen.“
„Die haben doch ihre Malschule. Die Schüler hocken da nicht gratis rum.“
„Aber zwei der Zahlenden sind nicht mehr dort.“
„Warum nicht?“
„Wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie sich dieses Jahr schon zum zweiten Mal heimlich mit dem teuren Safran, der ein schönes Goldgelb ergibt, und noch einigen anderen Farbpigmenten von uns hatten beschenken lassen.“
„Heimlich?“
„Ja. Der Lehrer der Malschule mag keine Stiftsdamen und schon gar keine, die ihm Geschenke machen.“
„Hubertus?“
„So heisst er, ja.“
Hans, einer der Novizen des Klosters, grinste auf die beiden ins Gespräch Vertieften herab und frechelte: „Na, Fidibus, willst du noch einen dritten Topf Hafergrütze? Und die Dame? Noch mehr Flüssignahrung oder etwas zu knabbern?“
„Ihr habt ja Rotzlöffel hier!“, hob die erstaunte Marie ihren Blick zum stehenden Hans empor, was ihn gleich zu einem noch breiteren Grinsen animierte, denn die Dame war ein netter Anblick.
Fidibus winkte nur ab: „Der ist halb so schlimm. Für mich einen Most, Hans.“
„Und für mich etwas Frittiergebäck und noch ein Krüglein Bier.“
Erst als der Rotzlöffel wieder weg war, sprachen sie weiter.
„Ist mir gar nicht aufgefallen“, bemerkte der Cellerar.
„Du bist ja auch ein Mann, Fidibus. Aber dieser Hubertus ist wirklich ein komischer Kauz.“
„Mich interessiert eher, was es mit den beiden Schülern auf sich hat. Kennst du ihre Namen?“
„Nein.“
„Ich könnte mal meinen alten Freund Ottfried, der im Kloster Reichenau Hospitalar ist, besuchen gehen und ihm ein bisschen auf den Zahn fühlen.“
„Und bei der Gelegenheit könntest du dich um diesen Trottel Hubertus kümmern.“
„Dem könnte ich vielleicht auch ein bisschen auf den Zahn fühlen, ja.“
„Und ich bleibe solange in Sankt Gallen. Hier ist es gar nicht so leid.“
„Hier? Nein, hier ist es nicht so leid. Saukalt zwar, aber wunderschön.“
Oberspion Furdin hatte es endlich geschafft, zu Stefan vorzudringen und erkundigte sich höflich nach dessen Befinden.
„Schickt dich der olle Konrad, Furdin?“, schmunzelte der junge Mann, dessen Finger mit bunten Farbtupfen übersät waren.
„Ja, er möchte wissen, ob du fleissig lernst.“
„So ein Unsinn, Furdin! Der interessiert sich nicht die Bohne für mich. Was führt er wirklich im Schilde?“
„Nichts“, druckste der Ministeriale herum.
„Na, sag schon.“
„Die beiden Schüler“, sagte Furdin in eigenem Interesse.
„Welche beiden Schüler?“
„Die, welche nicht mehr hier sind.“
„Ach die beiden.“
„Ja, die beiden.“
„Keine Ahnung, Furdin. Soll ich mich umhören?“
„Ja.“
„Und was kriege ich dafür?“
„Von mir?“, fragte Furdin entsetzt.
„Von dir, ja.“
„Und was genau willst du?“
„Einen Kuss von einem Mädchen.“
„Von welchem Mädchen?“
„Ist völlig egal.“
„Und wo soll ich die schöne Unbekannte auftreiben?“
„Das überlasse ich ganz dir.“
„Er sagt nichts“, machte sich Pirmina, Burgherrin in der Nähe von Magdeburg, wirklich Sorgen.
„Malen kann er; das ist es also nicht“, sagte ihr Mann Gundert.
„Wie sollen wir es bloss aus ihm herauskriegen?“, rang Pirmina die Hände.
„Wir müssen ihn in Ruhe lassen. Er wird von selbst zu uns kommen und uns sagen, was auf dieser Insel Reichenau wirklich vorgefallen ist.“
Der schweigende Junge sass derweil auf der Hurde der elterlichen Holzburg, schaute in die Weite Ostfalens im Stammesherzogtum Sachsen und dachte an die seltsame Nacht, in der er, Sigmund, und sein Mitschüler Peter einen Engel gesehen hatten. Er und Peter hatten sich mitten in einer mondhellen Nacht aus dem Schlafsaal der Schüler geschlichen, um auf Abenteuerreise zu gehen. Die ganze Insel Reichenau erkunden. Nicht nur in der Malschule hocken. Also waren sie von Mittelzell nach Niederzell gewandert, schön am Ufer des Bodensees entlang, und hatten schliesslich die Kirche Sankt Peter und Paul entdeckt. Irgendwann einmal musste es hier gebrannt haben, denn das Gebäude sah nicht so aus, wie eine Kirche aussehen sollte. Das Dach schien irgendwie lädiert zu sein. So genau hatten sie es im Mondlicht auch nicht sehen können. Nur den leuchtenden Engel mit ihrem Mallehrer. Die beiden hatten sie ganz genau gesehen. Und dann hatten sie auch noch etwas gehört.
„Hast du gut geschlafen, Furdin?“, wollte Ottfried, der Hospitalar des Klosters Reichenau, wissen.
„Ja, natürlich. Ihr habt es gut hier. Ihr seid ja reich wie sonst was“, versuchte der Ministeriale des Bischofs, brisante Informationen aus dem zugänglichen Ottfried hervorzulocken.
„Na ja, wir waren schon mal reicher.“
„Und warum seid ihr jetzt ärmer?“
„Sie haben zwei unserer Malschüler nachhause geschickt.“
„Wer ist ‚sie‘?“
„Eigentlich nur Hubertus.“
„Und wer ist Hubertus?“
„Unser Mallehrer.“
„Zeigst du ihn mir mal unauffällig?“
„Ja. Komm mit.“
Und die beiden Verschwörer begaben sich verstohlen zur Malschule hinüber, setzten sich auf eine Bank und warteten, bis sowohl Lehrer als auch Schüler aus dem Unterrichtsraum herausströmten.
„Dort ist er“, flüsterte Ottfried.
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