Gerade als er seinem Neffen über den Bartresen zurief: «Matteo! Grappa für alle, bitte!», betrat Graziano Russo, der Bürgermeister, die Espressobar. Die Stimmen verstummten, alle Augenpaare waren nun auf ihn gerichtet.
Und keiner außer Matteo bemerkte, wie Giulio heimlich durch die Tür ins Nebenzimmer verschwand.
Russo nickte dem Dorfältesten zu, dann den Herren in der hinteren Ecke und grüßte anschließend freundlich in die Runde. Er war ein auffälliger Mann mit Charisma. Seine Gesichtszüge waren kantig, gezeichnet durch einen kräftigen Unterkieferknochen und ein ausgeprägtes Nasenbein. Eher untypisch für Menschen aus der Gegend waren seine stahlblauen Augen und sein hellbraunes Haar, das er mittellang gelockt und mit starkem Gel nach hinten gekämmt trug.
Von den Anwesenden erntete der Bürgermeister gleichermaßen hochachtsame, wenn nicht unterwürfige Blicke. Er gesellte sich zu Matteo Bonfortuni und klopfte ihm brüderlich auf die Schultern.
Matteo und Graziano waren im selben Alter und kannten sich von Kindesbeinen an. Obwohl sie in dieselbe Schule gegangen waren und sich sehr nahe gestanden hatten, waren ihre beruflichen Wege in zwei komplett verschiedene Richtungen verlaufen. Matteo kam in puncto Sturheit zwar ganz nach seinem Vater Giovanni Bonfortuni, allerdings nicht, wenn es um seine Karriere als Politiker ging. Das Politisieren überließ Matteo seinem Vater, der früher eine zentrale Rolle in der Provinz-Partei innegehabt hatte und noch heute enge Kontakte zu hochrangigen Vertretern aus Politik und Wirtschaft pflegte.
Da sich Matteo nicht für eine solche Karriere interessierte, hatte Graziano Russo seine Chance gewittert. In der Jugendzeit hatte Matteo seinen Kumpel oft mit nach Hause genommen, und Graziano hatte die Familie bei den Mittagessen mit seinen Meinungen vollgelabert. Das war über Jahre so gegangen. Irgendwann hatte Matteos Vater den ambitiösen Graziano zu einer politischen Versammlung mitgenommen und ab dann war dessen Weg geebnet gewesen. Graziano Russo war sozusagen ein Zögling von Signore Giovanni, ganz zu dessen eigenem Vorteil, denn damit blieben seine Interessen gewahrt und vertreten.
Der Dorfälteste bestellte eine dritte Runde Grappa. Verstohlen guckte er hinter den beschlagenen Brillengläsern hervor, beobachtete erst eine leichte Nervosität bei Matteo, dann, wie dieser sich erhob und mit Graziano Russo zur Türe ging, die in einen besonderen Raum führte. Der Zutritt zu diesem Nebenzimmer war nur einem erlauchten Kreis vorbehalten und auch nur mit ausdrücklicher Bewilligung von Matteo Bonfortuni. Der Dorfälteste wusste, wie auch die anderen in der Bar, Bescheid. Man verhielt sich diskret, denn über diesen Raum galt es konsequent zu schweigen. Niemand wagte, die Machenschaften hinter der verschlossenen Tür zu hinterfragen. Das war nur eine der Regeln.
Matteo ließ Graziano den Vortritt und schloss die Tür hinter sich zu. Im Nebenzimmer warteten bereits Giulio und ein weiterer seiner Neffen, Angelo Bonfortuni. Matteo grüßte kühl und setzte sich scheinbar desinteressiert an den runden Salontisch aus massiver Eiche.
Der Bonfortuni-Clan war weit über Santa Berta hinaus berüchtigt, die Familie hatte provinzweit einen gefürchteten Ruf. Auch die Beziehung zwischen den Familien Bonfortuni und Russo gründete auf einer langjährigen Verbindung ihrer Vorfahren. Gerüchte kursierten in der Gemeinde, Graziano Russo hätte seine Wahl zum Bürgermeister hauptsächlich der Familie Bonfortuni – allen voran Signore Giovanni – und deren starkem Einfluss auf die Dorfbevölkerung zu verdanken.
In Santa Berta traute sich kaum einer über die Intrige zu sprechen, die zur Abwahl von Russos Vorgänger geführt hatte. Man sagte dem abgewählten Bürgermeister nach, er hätte seine Position missbraucht und sich persönlich bereichert. Es wurde ihm angelastet, für mehrere Transaktionen auf ein Schweizer Konto verantwortlich zu sein. Aufgrund des Verdachts auf Betrug, so hieß es weiter, sei er als Bürgermeister untragbar geworden.
Währenddessen schlugen Leute aus den Reihen der Familien Bonfortuni Graziano Russo für die Nachfolge des Amtes vor.
Insgeheim war jedem Bewohner klar, dass sich eine beachtliche Menge der Leute ihrer Stimme enthalten hatte und Graziano Russo nur deswegen zum Bürgermeister gewählt worden war. Darüber aber hüllte man sich in Schweigen.
In seiner Dankesrede hatte er kein Wort über seinen Vorgänger, den abtretenden Bürgermeister, verloren. Die Bewohner standen geschlossen hinter Russo und ignorierten die Umstände der Wahl. Sie hatten andere Probleme. Was die Bevölkerung von ihm erwartete, waren Taten und eine begründete Hoffnung auf bessere Zeiten. Sie brauchten Lösungen, Arbeitsplätze und Perspektiven. Dieses Versprechen sollte Russo ihnen geben.
Er hatte es in seiner Ansprache eine positive Erfahrung genannt, dass die Gemeinschaft seine Werte teile und seinen Schutz anerkenne. Anschließend erinnerte er die Bevölkerung an ihre Rechte und Pflichten und an die Regeln des Zusammenlebens, die sie alle erfüllen sollten. Beendet hatte er seine Rede mit dem Versprechen, er werde mit dem Norden verhandeln und sähe es als seine Aufgabe, die Provinz in einen wirtschaftlich attraktiven Standort zu wandeln.
Das war es, was das Volk hören wollte. Seither wurde Graziano Russo als Hoffnungsträger in Santa Berta geachtet und gefeiert.
Kapitel 3 - Giulio Bonfortuni
Graziano Russo räusperte sich und gab bekannt, er habe die Herren Bonfortuni in dringender Angelegenheit um dieses Gespräch ersucht.
«Signori», sprach er eindringlich im düsteren Licht der Tischleuchte und wandte sich Matteo zu: «Es gibt ein Problem!»
Russo informierte, dass eine hochvertrauliche Information in die falschen Hände geraten sei und die Polizei von der geplanten «Operation Glücksspiel» erfahren hätte.
Angelo wirkte schläfrig und unbeeindruckt. Ganz anders Giulio, der sich die Hände vors Gesicht schlug. Er fluchte in süditalienischem Dialekt: «Von wem kam der Tipp?»
Das wollten auch Matteo und Angelo wissen. Längst war ihnen klar: Jemand aus den eigenen Reihen hatte sie verpfiffen; ein Eingeweihter, der ihr Vertrauen genoss, denn nur eine Handvoll Leute hatte von der Operation gewusst.
Graziano Russo hüllte sich jedoch beharrlich in Schweigen. Endlich bemerkte er beiläufig, dass dieses Treffen nun beendet sei und warf Giulio Bonfortuni einen auffordernden Blick zu.
Giulio hatte den Wink verstanden und hielt den Augenkontakt für wenige Sekunden aufrecht. Dann holte er ein gefaltetes Bündel Euronoten aus seiner Hosentasche und schob etwa die Hälfte davon wortlos über die Tischplatte. Graziano Russo griff in selbstverständlicher Manier nach den Noten, zählte sie durch und verzog dann verächtlich den Mund. Er mimte den Beleidigten. Giulio kannte Graziano zu gut und interpretierte die Mimik unmittelbar: Somit schob er auch die zweite Hälfte des Bündels über den Tisch.
Graziano Russo grinste vor sich hin und steckte das Geld zufrieden weg. Anschließend stand er auf, klopfte Giulio versöhnlich auf die Schultern und gab zu verstehen, dass er zum Gehen bereit sei.
Kaum war Russo verschwunden, kam alles plötzlich. Giulio erfasste gerade noch den Moment, als vier Polizisten durch den Haupteingang in die Espressobar und direkt auf Matteo Bonfortuni losstürmten. Ein Polizist packte ihn an der Schulter, der andere drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihn hart gegen die Wand. Einer der Polizisten kontrollierte den Eingang, ein weiterer eilte herbei und schloss ihm die Handschellen ums Handgelenk.
Alle Augenpaare der anwesenden Gäste waren auf Matteo gerichtet. Dieser genoss die Aufmerksamkeit und ließ die Verhaftung kommentarlos geschehen. Als ihm seine Rechte erläutert wurden, war seine einzige Reaktion ein hämisches Grinsen. Er war sich sicher, dass er demnächst wieder auf freiem Fuß sein werde.
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