Alles, was Maya vom Tod ihrer Mutter wusste, stammte aus den Erzählungen ihrer Großeltern. Sie sei Ende der Siebzigerjahre in den Süden Italiens gereist, um sich noch einmal mit ihrem Ex-Freund zu treffen, ein Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe und dem Vater ihrer Tochter, von dem sie sich noch vor Mayas Geburt getrennt hatte.
Als Karin ihre Eltern damals vor die Tatsache gestellt hatte, sie werde mit ihrem Baby nochmals nach Süditalien reisen, hatte Josef Hartmann interveniert und gar den Streit mit seiner Tochter nicht gefürchtet. Doch sie war stur geblieben. Gegen den Willen ihrer Eltern war Karin eines Nachts heimlich losgefahren. Nur in einem Punkt hatte sie auf Druck nachgegeben: Sie hatte die kleine Maya bei den Großeltern zurückgelassen.
Zwei Wochen später sollte ihre Rückkehr sein, aber Karin war nicht nach Hause gekommen. Auch eine Woche danach war sie noch immer nicht aufgetaucht und selbst nach zwei weiteren Monaten fehlte jede Spur von ihr.
Mayas Großvater hatte die Umstände von damals so beschrieben: Nachdem sie kein Lebenszeichen von ihrer Tochter vernommen hatten, hätten sie schnell die Befürchtung gehabt, ihr könnte etwas zugestoßen sein. Denn niemals hätte sie das Baby einfach so verlassen, Karin hätte sich zuhause gemeldet. Also hatten sie die Polizei verständigt und die dazumal fünfundzwanzig Jahre alte Tochter als vermisst gemeldet.
Es seien drei lange Wochen vergangen ohne eine Nachricht der Polizei. Aber dann, an einem regnerischen Nachmittag, hatte es plötzlich an der Türe geklingelt. Mayas Großvater erinnerte sich immer wieder an den einschneidenden Moment, als die beiden Polizisten das Haus betraten und er vom ersten Augenblick an wusste, dass er seine Tochter nie wieder lebend sehen würde.
Auf Vorstoß der Schweizer Polizei, die sich mit der Vermisstenanzeige an die Kollegen in Süditalien gewandt hatte, waren die Ermittlungen ins Rollen gekommen.
Gemäß Rapport an die Zürcher Kollegen war Karin bei einem Überholmanöver in überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen und die Klippe hinuntergestürzt. Dabei waren sie und eine weitere Person tödlich verunglückt.
Mehr wusste Maya nicht, auch nicht über den tragischen Unfall. Es waren immer dieselben alten Geschichten, die sie erzählt bekam. Mehr gab es nicht, außer der Frage, was wohl gewesen wäre, wenn Karin ihr Baby damals nach Italien mitgenommen hätte. Vielleicht wäre sie heute noch am Leben. Aber genauso gut hätte es sein können, dass auch Maya beim Autounfall gestorben wäre.
Ihre Großeltern hatten damals eine schwere Zeit und unter dem Schicksalsschlag gelitten. Josef Hartmann arbeitete unaufhörlich, um sich von seinem Schmerz abzulenken, und auch seine Frau war nie über den Verlust hinweggekommen. Lange Jahre war sie depressiv gewesen und irgendwann hatte sie aufgehört mit dem Essen. Maya und ihr Großvater standen der Situation hilflos gegenüber und taten alles, um Großmutters Leiden zu lindern. Helfen konnten sie ihr nicht.
In dieser Phase kamen bei Maya immer wieder die Gedanken an ihren leiblichen Vater auf. Sie sehnte sich nach ihm, obwohl sie ihn nicht kannte. Von ihm wusste sie nichts, weder wie er ausschaute noch wie alt er war. Sie vermutete, dass er einmal in Süditalien gelebt hatte. Aber auch das war nur eine Idee. Einmal hatte sie es gewagt und ihren Großvater auf das Thema angesprochen – und es gleich wieder bereut. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt.
Erst Jahre später unternahm Maya einen weiteren Anlauf, um an Informationen über ihren Vater heranzukommen. Diesmal suchte sie das Gespräch mit ihrer Großmutter.
Vielleicht hätte diese ihr etwas über ihren Vater erzählt, wenn Großvater nicht eingeschritten wäre.
Auf die Frage, weshalb er wütend auf Mayas Vater sei, antwortete er knapp: «Der Mann ist für uns gestorben. Er existiert nicht.»
Mit dieser Wahrheit hatte Maya ihr Leben lang gelebt: Ihre Mutter war tot und ihr Vater war für ihre Familie gestorben. Ob er wirklich tot war, das sollte sie nicht erfahren. So wollte es Mayas Großvater und dabei war es auch geblieben.
Als wäre das alles nicht schon genug an Schicksalsschlägen gewesen: Einige Jahre später, als Maya gerade sechzehn war, starb ihre Großmutter an einem Herzstillstand. Sie war am Abend zuvor normal zu Bett gegangen und am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufgewacht.
Mit dem Tod seiner Frau änderte sich das Leben von Mayas Großvater schlagartig. Er war nie mehr derselbe. Mit seinem Gesundheitszustand ging es stetig abwärts. Zeitweise versank er im Alkohol, vernachlässigte soziale Kontakte und klagte über immense körperliche Schmerzen. Es kam soweit, dass Maya nach der Schule den Haushalt führen musste, neben dem, dass sie für ihre Prüfungen büffelte und sich stundenlang die Leiden ihres alkoholisierten Großvaters anhörte.
Erst einige Jahre später hatte sie das Gröbste ihrer Krise hinter sich gebracht und neue Lebensfreude geschöpft. Mit dem Abschluss der Weiterbildung begann ein neuer Abschnitt und endlich schien es aufwärts zu gehen mit ihrem Leben. Maya war voller Zuversicht und stand mit ihren fünfundzwanzig Jahren auf eigenen Beinen. Sie war stolz auf das, was sie bisher erreicht und wofür sie sehr hart gearbeitet hatte: Ihre Unabhängigkeit. Zu dieser Zeit lernte Maya ihren Freund Thomas kennen und lieben. Thomas zählte zu den ganz wenigen, denen Maya wirklich vertraute. An ihm schätzte sie besonders seinen Humor und sein ausgeglichenes Wesen. Er war ein Ruhepol, ein Fels in der Brandung: Thomas war der wichtigste Teil in Mayas Leben.
Trotz allem waren Stunden der Traurigkeit immer noch präsent. Stärker denn je sehnte sich Maya danach, mehr über ihren Vater und ihre Herkunft zu wissen. Auch auf die Gefahr hin, dass er bereits tot war - Mayas Fragen nach ihren Wurzeln nahmen schleichend überhand in ihrem Gefühlsleben. Zum Beispiel war sie sich sicher sie würde ihrem Vater sehr ähnlich sehen. Den südländischen Teint, die rehbraunen Augen und die kastanienbraune Mähne hatte sie zweifellos von ihm geerbt, wo doch ihre Mutter Karin hellhäutig war, blonde Haare und blaue Augen gehabt hatte.
Auch wenn es darum ging, was er für ein Typ Mensch sein könnte, war Mayas Fantasie grenzenlos. Nach ihrem Wunschbild, das sie sich von ihm gemacht hatte, war ihr Vater ein sonniger Mensch, ein Mann mit dem typischen Temperament eines charmanten Italieners, vielleicht interessierte er sich für Fußball, oder Radfahren, war erfolgreich in seinem Beruf. In einem Punkt war sie sich sicher: Der unbekannte Mann würde ein liebevoller Vater sein.
Maya war inzwischen erwachsen und ihr innigster Wunsch reifte in einen glasklaren Plan: Sie wollte endlich wissen, wer ihr Vater war.
Die Herren aus Santa Berta trafen sich in Matteos Espressobar und debattierten aufgebraucht über die ortsansässige Telefongesellschaft, bei der einige unter ihnen arbeiteten. Die heutige Nachricht in der Tageszeitung traf sie wie eine Wucht. Ihr Arbeitgeber hatte in den Medien die Geschäftsaufgabe verlauten lassen. Damit war die Existenz einiger Familien der Gemeinde bedroht.
Schuld waren nach Meinung der Männer wie immer die unfähigen lokalen Politiker, die in ihren Augen einmal mehr versagt hatten.
Ein Älterer schlug mit seinem Gehstock auf den Tresen und fluchte: «Was an unserer Küste geschieht, bleibt an unserer Küste. Es ist unsere Küste! Nostra costa! Wir lassen uns von der Landesregierung nichts vorschreiben!»
Giulio Bonfortuni nahm den Ruf auf: «Nostra costa!», gefolgt von dem Echo der Männer: «Nostra costa!»
«Wer Geld hat, dem wird es genommen, und wer keines hat, wird von der Regierung im Stich gelassen! So einer Regierung sind wir nichts schuldig. Wir haben unsere eigenen Regeln!» Giulio Bonfortuni hatte das Wort übernommen und erntete Beifall für seine Parolen.
Читать дальше