Allzu viel gab es in dieser kleinen Stadt zwar nicht zu sehen, aber immerhin ein paar Fachwerkhäuser mit schönen Schaufenstern. Früher hatte sie immer wieder nach neuen Pferdekalendern Ausschau gehalten, wenn sie nicht in Richtung der Weiden in der Umgebung marschiert war. Leider hatte sie das Reiten aufgeben müssen, weil ihre Mutter nicht mehr genug Geld dafür hatte.
Jetzt aber interessierten sie mehr die Modeschaufenster und die Kataloge; auch ein paar große Poster, mit Models in Bikinis, Kostümen und sonstigen Kleidungsstücken, waren an manchen Flächen angebracht. Dieses Schuljahr noch, dann war sie mit der Schule fertig, konnte sich selbst für solche Fotos bewerben – malte sie sich zumindest aus.
Bald hörte die dichte Bebauung auf, dafür erstreckte sich neben der Straße eine unbebaute Fläche mit viel Gras und wild wachsendem Unkraut. Und etwa einen Meter neben dem Bürgersteig erhob sich ein Mäuerchen, im Durchschnitt dreißig Zentimeter hoch, aber uneben, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dem Krieg.
Wenn ihre Mutter nicht dabei war, liebte es Siusannia schon immer, den Bürgersteig zu verlassen, sich die Schuhe auszuziehen und auf dem Mäuerchen entlang zu balancieren. Sie merkte, dass sie darin immer besser wurde.
In letzter Zeit stellte sie sich zudem dieses Mäuerchen gerne als Laufsteg vor, auf dem sie in der neuesten Mode spazierte, und alle ihre Bekannten und allerhand Unbekannte jubelten ihr dabei zu.
An diesem Tag waren die Steine nass, was schon länger nicht mehr vorgekommen war – nach langem hatte es hier wieder geregnet.
Schließlich erreichte sie das Altenheim, ein dreistöckiges Haus mit flachem Dach. An den Fenstern klebten schwarze Adler. Im Inneren verliefen weite Flure, doch kannte sie ihren Weg mittlerweile gut.
Von ihren Großeltern war nur noch der Vater ihres Vaters am Leben. Ihre Großmütter waren verhältnismäßig früh verstorben, der Vater ihrer Mutter war im Krieg gefallen.
Sie lief durch die Gänge, bis zu der Tür, an deren Außenseite das Bild eines Mannes mit Ziegenbart, aber auch mit dem Häuptlingsschmuck der Sioux, klebte, der auf ein Pferd steigen wollte. Dieses Bild hatte Siusannia ihrem Großvater in der ersten Klasse gemalt.
Im Zimmer saß in einem Rollstuhl ein Mann mit einem solchen Ziegenbart, der inzwischen schon weiß geworden war. Beide umarmten sich, sie grüßte ihn von ihrer Mutter, erzählte von der Schule, er vom Essen im Heim:
„Heute gab es ganz passables Rindfleisch mit Kartoffeln – hätte aber für meinen Geschmack etwas schärfer und besser gesalzen sein können!“
Etwas lauter fragte er:
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Siusannia starrte gedankenverloren in eine Fernsehzeitschrift, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag, mit der Großaufnahme einer blonden Frau in Jeans.
Aber jetzt sah sie auf und erwiderte:
„Ja, du hast gesagt, dass das Fleisch etwas saurer hätte sein können!“
„Na ja, fast. Wenn du einmal in so einer Zeitschrift abgebildet werden möchtest, musst du dich anstrengen. Auch mehr essen!“
„Redest du jetzt auch schon so?“
„Was soll man dazu schon sagen? Genauso ähnlich wie dieses Zimmer wird auch deines in dem Kurheim aussehen“, meinte Opa, und sie fragte:
„Bist du sicher? Nur dass ich es mit drei anderen Mädchen teilen muss!“ „Das wird dir schon gefallen. Früher haben wir auch so eng beisammen gewohnt. Den Tag über werdet ihr viel draußen sein!“
„Schon möglich ...“
„Ich weiß noch ganz genau, wie du früher gern mit mir auf das Dach hier gestiegen bist – nur kann ich das jetzt leider nicht mehr. Aber hoch oben in den Bergen ist es noch viel schöner!“
„Werde ich dort vielleicht meinen Vater finden?“
Da runzelte Opa die Stirn und entgegnete:
„Ich bin sicher, dass er deine Mutter nicht verlassen hat, sondern irgendwo abgestürzt ist – an einer unwegsamen Stelle, wo ihn niemand gefunden hat!“
„Meine letzte Erinnerung an ihn ist, wie wir an einem Moor standen – seitdem sind wir nie wieder in die Berge gefahren!“
„Dann wird es mal wieder Zeit, ist so schön dort – und reiten kannst du dort auch gut!“
„Aber einmal auf einer Gämse statt auf einem Pferd – nur wird nichts davon Teil des Gruppenprogramms sein!“
Yxick betrat das Wohnzimmer seiner Familie. Dort auf dem Sofa saß bereits seine siebzehnjährige Schwester Floriane, die er immer „Rane“ nannte, und auf zwei Sesseln saßen ihre Mutter und ihr Vater. An den Wänden standen große Regale, voll mit Büchern, und an freien Stellen hingen gerahmte Land- und Seekarten aus früheren Jahrhunderten, jeweils als Faksimile. Auf dem Glastisch vor ihnen lagen ein paar Prospekte mit Fotos von den Bergen.
Yxick setzte sich mit gekrümmtem Rücken auf das Sofa, so dass sein kariertes Hemd hinten leicht aus der Hose rutschte.
Seine Schwester hatte rötliche schulterlange Haare und Sommersprossen und war noch eher vollschlank. Sie schminkte sich schon leicht und kleidete sich in Jeans und ein orangefarbenes T-Shirt, das ihren Busen schon länger gut erkennen ließ, blätterte in einer der Broschüren und sagte zu ihrem Bruder:
„Eine wirklich schöne Gegend, in die du fahren wirst. Nur wird dort nicht viel los sein!“
„Floriane“, sagte ihre Mutter. „Darum geht es diesmal doch wirklich nicht, auf einer Kur soll er nachts viel schlafen!“
Dennoch war dem Elfjährigen nicht wohl bei dem Gedanken, erstmals ohne seine Familie weg zu fahren, was an seiner Miene und seiner gekrümmten Haltung leicht zu erkennen war.
Sein Vater, der sogar hier im Haus ein graues Jackett trug, das ziemlich gut zu seinem langsam grau werdenden Vollbart passte, erklärte ihm:
„Wir verstehen dich ja; auch mir erging es einmal ähnlich, als im Krieg die Bomben auf die Städte geworfen und so viele Kinder in meinem Alter an die See geschickt wurden.“
Da sahen seine Kinder neugierig zu ihm hin, und der Vater fuhr fort:
„Die ersten Tage waren erst einmal schwer; aber schon nach etwa einer Woche war ich so schön am Spielen mit den anderen Kindern, dass ich gar nicht mehr so viel dazu kam, an Zuhause zu denken ...“
Thombi wohnte im fünften Stock eines Hochhauses, in einer Wohnung mit zwei Zimmern – einem Wohn- und Esszimmer mit Küche sowie einem Schlafzimmer für alle: Seinen Vater, seine Mutter, ihn und Peggy, seine fünfjährige Schwester, die er gerne „Pippi“ nannte.
Es roch wieder einmal nach Schnaps in der Wohnung, da die Mutter an diesem Nachmittag im Supermarkt arbeitete und den Vater nicht vom Trinken abhalten konnte. Die Blümchentapete an den Wänden war an vielen Stellen abgerissen, dafür klebten über solchen Stellen Bilder von der Fußballweltmeisterschaft 1974. Ein Glück, dass sich der Hauswirt nie blicken ließ! Den Lärm von der Straße hörte man hier nicht so sehr, dafür immer wieder die S-Bahn, die zwischen den Häusern hindurch fuhr.
So auch jetzt; und der Vater wachte davon nicht einmal auf, sondern blieb zusammengesunken auf dem Sofa sitzen.
Wie gut, dachte sich Thombi, da werden die Pippi und ich Die Biene Maja ohne weiteres sehen können!
Momentan spielte die Kleine im Schlafzimmer mit ihren Puppen und seinen Autos – beides interessierte sie gleichermaßen. Auf diese Weise konnte sie sich selbst beschäftigen, wenn gerade niemand Zeit für sie hatte.
Sollte er jetzt Schularbeiten machen? Würde heute niemand kontrollieren – andererseits ließ ihn gerade in diesen Tagen der Gedanke nicht los, dass er eigentlich aufs Gymnasium wollte! So holte er die Aufgaben aus der Schultasche.
Später ging er ins Schlafzimmer, und seine Schwester begrüßte ihn:
„Thomi, sieh, wie die Puppu Auto fährt!“
„Das macht sie sehr schön, wird später alle Autorennen gewinnen! Jetzt aber gibt es etwas Schönes im Fernsehen!“
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