Darvina hatte den Tisch für uns gedeckt: ein riesiger, noch warmer Apfelkuchen, eine Schüssel Schlagsahne und eine große Porzellankanne frisch gebrühten Bohnenkaffees. Es kam uns vor, als würde in dieser Welt immerzu gegessen. Vielleicht waren wir aber auch nur diese Fülle nicht mehr gewöhnt.
Wir saßen auf grob gezimmerten Holzbänken und Hockern und ließen es uns schmecken. Darvina lächelte. „Der Apfel. Die Lieblingsfrucht der Göttin. So wisset: die Schlange ist eine Erscheinungsform der Mutter. Sie WOLLTE, dass die Menschen Wissen und Erkenntnis erlangen. Und was habt ihr daraus gemacht? Eine Schlange, die die Frau zur Sünde verführte. Eva hatte kapiert, worum es ging. Adam war zu dämlich. Er dachte mit dem Schwanz, deshalb das Feigenblatt.“
Dann begann sie zu erzählen. „Ich war die Tochter einer Kräuterfrau und Hebamme, erblickte 1644 das Licht der Welt. Meine Mutter brachte mir das alte Wissen bei über die Tiere, die Insekten und Pflanzen der Wiesen, Felder und Wälder und vieles mehr. So bald ich alt genug dazu war, lernte ich, einen neuen Menschen in die Welt zu holen, einem alten das Heimgehen zu erleichtern und einen kranken zu heilen oder von seinem Leiden zu erlösen. Wir verehrten die Göttin, die uns dieses Wissen geschenkt hatte und feierten die althergebrachten Feste ihr zu Ehren.
Als ich vierzehn Jahre alt war, holten uns die Pfaffen und sperrten uns in den Kerker. Wir seien mit ihrem Teufel im Bunde, trieben Unzucht mit ihm, warfen sie uns vor. In unserem Glauben gibt und gab es keinen Teufel und keine Unzucht. Deshalb wehrten wir uns gegen diese Beschuldigungen. Sie quälten und folterten uns so lange, bis wir Dinge gestanden, die nicht der Wahrheit entsprachen. Viele Hexen und Hexenmeister starben auf den Scheiterhaufen dieser Christenbrut. Selbst Menschen, die nicht zur Hexengilde gehörten, die Verleumdungen zum Opfer fielen, aus Hass und Neid geboren. Meine Mutter, ich und einige andere wurden von den Balgaren gerettet. In buchstäblich letzter Sekunde. Nur wenige waren durch die abscheulichen Foltermethoden noch in der Lage Kinder zu zeugen oder zu gebären. Lord Darjal schenkte uns deshalb ein langes Leben, dass wir das alte Wissen bewahren und neues hinzufügen können.“
Bedrücktes Schweigen folgte ihren Worten. Ich bemerkte, wie Lottas Silberkreuz in der Tiefe ihrer Hosentasche versank.
Wir hätten gerne das Tal der Göttin besucht, in dem die Priesterinnen lebten. Leider blieb uns der Zugang verwehrt. Darvina führte uns trotzdem über die Wiesen hinter ihrem Haus zu dem Hügel mit dem magischen Baum und der heiligen Quelle. Zwei Wege standen zur Wahl. Einer, der steil nach oben führte und einer, der sich in sanften Windungen hinaufschlängelte. Wir entschieden uns für den Serpentinenweg. Zum Kraxeln hatte keiner Lust, es war zu warm. Wir genossen den Ausblick auf Berge, Wiesen, Wald und dahinter auf eine mittelalterliche Burg. Wendelstein, unser nächstes Ziel. Am Waldrand faulenzte ein kleines Rudel Rotwild im Schatten hoher Tannen. Auf den Wiesen futterten Kaninchen sich das Ränzlein voll. Mit Giersch und Schafgarbe, erklärte uns Darvina. Vogelgezwitscher und Bienengesumm begleiteten uns den Hügel hinauf. Wir erlebten eine Idylle, die wir von zuhause aus nicht mehr kannten.
Die Göttin liebt die Bienen, lernten wir, und die Priesterinnen achten sie, weil sie den Honig aus den zarten Blüten saugen ohne diese zu zerstören. Honig war heilig und in den frühen Zeiten eine Opfergabe für Götter und Ahnen. Honigkuchen galten als segensreiche Speise und durften nur in den Weihenächten des Mittwinters verzehrt werden.
Oben angekommen begrüßte Darvina die mächtige Eiche. Wir standen andächtig dabei und lauschten, obwohl wir die uralten Worte nicht verstanden, die sie rezitierte. Anders als der Baum. Eine einzelne Eichel fiel direkt vor Darvinas Füße. Sie hob sie auf und verneigte sich respektvoll. Wir taten es ihr gleich. Sie führte uns zur Quelle, die mit Blumen geschmückt und von schwarzen Steinen eingefasst war. Balgurgestein, das wir bei den Zwergen kennengelernt hatten. Sie gestattete uns von dem Quellwasser zu trinken, das reiner und frischer schmeckte als alles, was je unsere Zungen benetzt hatte.
Das Tal der Göttin war in dichten Nebel gehüllt, aber nach einer stummen Zwiesprache zwischen Eiche und Hexe lüftete sich der Schleier für Sekunden. Wir erhaschten einen Blick auf einen großen Teich, auf dem Schwäne majestätisch ihre Runden drehten, und auf Enten, die nahe des schilfbewachsenen Ufers gründelten. Dahinter sahen wir einen lichten Birkenhain, und damit senkte sich der Nebelschleier auch schon wieder.
Wir wanderten schweigend den Weg zurück. Die Atmosphäre auf der Kuppe des heiligen Hügels hielt uns noch gefangen. Wann hatten wir in unserer Welt das letzte Mal einen so tiefen Frieden empfunden?
Plötzlich raste Morbidia an uns vorbei den Abhang hinunter, als hätte sie der wilde Watz gebissen. „Bienchen … Bienchen …“. Wir sahen unter uns eine junge, blonde Frau im Gras sitzen, die bei Morbidias Geschrei auffuhr. Auch das braun-weiß-gescheckte Pferd, das neben ihr graste, machte einen erschrockenen Satz zur Seite. Darvina winkte uns, ihr zu folgen. „Das ist Sabine, Graf Wendels Tochter, kommt.“ Es blieb uns nichts anderes übrig, als rutschend, stolpernd und fluchend die abschüssige Böschung zu bezwingen.
Sabine ließ sich von den kräftigen Armen der Hexe umfangen und herzhaft drücken. „Vater schickt mich, euch zu holen. Dein Pferd steht beim Haus.“ Morbidia stellte uns vor, während wir über die Wiese zurückliefen. „Die Hexen und Hexenmeister sind schon auf dem Weg zur Burg. Wir sollten uns beeilen.“
Unsere Zwergenpferde verharrten neben einer großen grauen Stute und sahen uns erwartungsvoll entgegen. Darvina holte hohe Flechtkörbe aus dem Haus, belud ihr Tier damit und führte es Richtung Wald. Wir anderen saßen auf und folgten ihr. Unterwegs schlossen sich immer mehr Menschen unserer Gruppe an. Sie alle waren schwerbepackt. Sabine bemerkte unsere fragenden Blicke. „Oh, das wisst ihr gar nicht. Heute Abend feiern wir ein Fest und morgen ist Markttag. Ihr seid genau zur richtigen Zeit gekommen.“ Mehr verriet sie nicht.
Mittelalterliches Wendelstein – Burgfest und Markttag
Was würde uns auf der Burg erwarten? Wir waren alle gespannt. Schon von weitem kitzelte angenehmer Grillduft unsere Nasen, der unsere Mägen daran erinnerte, dass wir seit dem Apfelkuchen bei Darvina nichts mehr gegessen hatten.
Fackeln erhellten den mit Kopfsteinen gepflasterten Burgweg. Fröhliche Musik und Gelächter drangen zu unseren Ohren. Im Burghof herrschte lebhafter Betrieb. Knechte eilten herbei und nahmen unsere Pferde in Empfang. In der Mitte des Platzes brannte ein Feuer, darüber briet ein riesiger Ochse am Spieß, der von zwei kräftigen Burschen routiniert gedreht wurde. Sabine kicherte. „Die Balgarier essen und trinken gerne. Daher haben Ochsen und Fässer bei uns gewaltige Ausmaße. Aber bevor wir uns unters Volk mischen, zeige ich euch eure Kammern. Ihr wollt euch sicher erst erfrischen.“
Von mir aus hätten wir das „Erfrischen“ verschieben können. Mir knurrte der Magen, als hätte ich einen hungrigen Wolf verschluckt. Die Kammer, in die Sabine mich führte, duftete intensiv nach Lavendel. Die Einrichtung war karg. Ein Schrank, ein schmales Bett, Bettwäsche aus gebleichtem Linnen, dazu ein schmiedeeisernes Gestell mit einer Waschschüssel, einem Krug mit warmem Wasser und darunter, man glaubt es kaum, ein Nachttöpfchen mit Deckel. Alles aus Porzellan und liebevoll-kitschig mit Rosen bemalt.
Schön war das Kleid, das ausgebreitet auf dem Bett lag. Dunkelbraun mit weißen Einsätzen an den Seiten und Trompetenärmeln. „Suppentunker“ nannten wir das zu unserer Zeit, weil sie beim Essen in den Teller hingen, wenn man nicht aufpasste. Sabine half mir beim Auskleiden, was mir peinlich war. Und beim Anziehen dieses fremden Gewandes, wofür ich ihr dankbar war wegen der Schnürungen. Sie bürstete meine Haare und setzte mir ein entzückendes Mützchen auf, das Wendelsteinerinnen, Hexen und oft auch Priesterinnen in den verschiedensten Ausführungen trugen, wie sie mir erzählte.
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