„Das war köstlich“, seufzte Jerusha und lehnte sich in ihrem schweren geschnitzten Stuhl zurück.
„Ehrensache“, sagte Rikiwa und lächelte. „Ich habe schon mit fünf Jahren auf einem Hocker am Herd gestanden und für die Gäste gekocht. Manchmal hat mich meine Mutter mit den Worten vorgestellt ´Und das hier ist Rikki KiTenaro, die kleinste Meisterköchin Ouendas.´“
Jerusha lachte. Allmählich wurde die vergangene Zeit lebendiger in ihr, konnte sie sich das Leben in der Faunenmühle deutlicher vorstellen. „Und musstest du auch Nähen lernen und all die anderen Dinge, die sich für Mädchen schicken?“
„Natürlich.“ Rikiwa strich ihre bestickte Bluse mit der Hand glatt. Fremdartig und wunderbar wirkten die Muster darauf. „Hier siehst du, was dabei herausgekommen ist. Ich träume diese Muster und wenn ich aufwache, zeichne ich sie sofort auf, damit ich sie nicht vergesse.“
„Vielleicht sind sie ein Geschenk der Iilon Eori“, sagte Jerusha leise.
„Wer weiß. Sie haben mir schon so Vieles geschenkt. Zum Beispiel haben mich meine Eltern schon sehr früh von der Schule genommen, weil ich das meiste, was die Lehrer mir dort beibringen wollten, schon instinktiv wusste. Aber ich kann selbst nicht erklären, wie das sein konnte.“
Als sei es ihr fast ein wenig peinlich, darüber zu sprechen, stand Rikiwa auf und begann, das Geschirr abzuwaschen. Jerusha beeilte sich, ihr zu helfen, und dachte darüber nach, wie es ihr selbst wohl ergangen wäre, wenn sie hier statt in Loreshom aufgewachsen wäre.
Am dritten Tag war Jerushas Bein soweit geheilt, dass sie wieder reiten konnte. Und auch ihr Arm fühlte sich endlich besser an; sie konnte ihren Bogen heben, ohne vor Schmerzen aufzuschreien. Jetzt fehlt mir nur noch die Übung , dachte Jerusha und brachte mit Kohle eine runde Markierung an einem alten Holzpfosten an, maß dreißig Schritt ab und konzentrierte sich. Es machte ihr keine Mühe, die Sehne zu spannen; ihr rechter Arm war kräftig durch die Arbeit am Stein. Als sie ihre Pfeile losgejagt hatte, sah Jerusha erstaunt, dass sich alle in der runden Markierung drängten.
„Du bist eine KiTenaro“, sagte Rikiwa schlicht.
„Tja, das bin ich wohl“, meinte Jerusha und musste lächeln. Das glattpolierte Eschenholz des Bogens fühlte sich gut an in ihrer Hand; ihr Körper erinnerte sich an das jahrelange, beständige Üben. Wieso nur hatte sie es nicht weitergeführt?
Ihre Tante selbst hatte einen Langbogen aus dunklem Holz mit silbernen Einlegearbeiten; er war größer als Jerushas Bogen, und um ihn zu spannen brauchte man mehr Kraft, als Jerusha aufbieten konnte. Fasziniert sah sie zu, wie Rikiwa aus hundert Schritt Entfernung genau in die Mitte von Jerushas Kohlemarkierung traf. Selbst Liri wäre das schwergefallen. Ach, Liri – Jerusha sehnte sich nach ihr, mehr als nach Dario. Sie dachte daran, wie Liriele ihr um den Hals fiel, auch wenn sie nur einen oder zwei Tage weg gewesen war, und einen Moment war Jerushas Sehnsucht nach ihrer kleinen Schwester so stark, dass es ihr fast schien, als müsse Liri jeden Moment durch die Tür treten.
Nachdem sie Liri einen langen Brief geschrieben und ihn mit einem Botenvogel abgeschickt hatte, starrte Jerusha traurig aus dem Fenster und fühlte sich unfähig, etwas zu unternehmen. Jetzt würde ich so gerne mit ihr zusammen den berühmten Apfel-Yannis-Kuchen der KiTenaros backen, Kulmesnüsse sammeln, Xaddu spielen – doch am meisten fehlt es mir, wie wir oft stundenlang in unseren Betten gelegen und geredet haben, statt zu schlafen.
Es gab nur einen Weg, das Heimweh zu überwinden – Ablenkung. Sie musste weiterreisen. Vollbringen, was sie sich vorgenommen hatte, und dann so schnell wie möglich nach Loreshom zurückkehren.
Rikiwa schien zu spüren, dass sie bald aufbrechen wollte und musste.
„Vielleicht hast du dich gefragt, wohin ich in den letzten Tagen immer wieder gegangen bin“, meinte sie, und auf einmal fiel Jerusha auf, dass sie müde wirkte. „Ich habe die Zeit damit verbracht, Fragen zu stellen. Und ein paar Antworten habe ich tatsächlich bekommen, von Wesen, die so alt sind wie die Welt selbst.“
„Von Wesen, die – von wem?“
„Frag nicht. Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Wichtig ist für dich, was ich herausgefunden habe. Du musst nach Norden reiten, bis zu den Grenzen von Benaris. Dort, in dem Ort Tholus, lebt eine Frau namens Jikena Pir.“ Ihre Tante zögerte. „Man wollte mir nicht sagen, wer genau sie ist, aber angeblich kennt sie sich mit Flüchen aus, und vielleicht kann sie dir helfen. Ich hätte ihr schon eine Nachricht geschickt, doch das wird nicht viel helfen, fürchte ich. Sie soll sehr stolz sein. Wer eine Bitte oder Frage hat, muss selbst zu ihr kommen, selbst für Fürsten macht sie keine Ausnahme.“
„Ich danke dir“, sagte Jerusha.
Ja, es sah fast so aus, als führe das Schicksal sie nach Norden. Sie hatte schon geahnt, dass ihre Reise sich noch eine Weile hinziehen würde.
Bevor sie sich verabschiedete, wagte sie noch einen Abstecher auf die Straße der Giganten, während Rikiwa unterwegs war. Jerusha behielt ihren Bogen schussbereit über der Schulter, doch sie sah keinen einzigen Waldkondor – vielleicht, weil sie jetzt unter Rikiwas Schutz stand? – und auch Nymphen waren nicht in Sicht. Ehrfürchtig legte Jerusha eine Hand auf die Rinde eines Baumes, der so dick war wie ihr ganzes Haus in Loreshom, und blickte hoch zur Krone, die in schwindelerregender Höhe prangte. Aus diesem Wald stammte also ihr Clan. Es war ein Ort wie kein anderer. Und doch fühlte es sich nicht wie eine Heimat an – ihre zumindest war es nicht und würde es auch nicht mehr werden.
Als sie weiterging, hielt Jerusha den Blick auf den Boden gerichtet. Schließlich hatte sie einen Stein gefunden, der ihr zusagte; ein grünlicher, kristalliner Maresit, etwa kopfgroß. Maresit ließ sich willig formen –das war gut, weil sie nicht viel Zeit hatte. Im Schuppen hinter Rikiwas Hütte fand sich Werkzeug, das halbwegs für ihre Zwecke taugte, und frohgemut legte Jerusha los. Als Rikiwa am späten Abend zurückkam, war das Geschenk fertig.
Auf Rikiwas herbem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, als sie die Skulptur der Nymphe mit der Katze in die Hand nahm und darüberstrich. „Du hast ihren Geist eingefangen“, sagte sie. „Ich sehe sie vor mir, so wie du sie erblickt hast. Ich danke dir, Jerusha. Sie wird mich an dich erinnern. Wirst du wiederkommen?“
„Auf jeden Fall“, sagte Jerusha, und dann umarmten sie sich zum ersten Mal.
Als sie losritt, strahlte der Himmel in einem tiefen Blau, und Jerusha war ebenso guter Dinge wie Amadera und Grísho. Er sprang von ihrem Schatten zu dem eines Baumes, an dem Jerusha vorbeiritt; wahrscheinlich bewegte er sich parallel den Pfad entlang, denn hin und wieder sah sie einen dieser Schatten seltsame Bewegungen vollführen. „Mit Verlaub gesagt, deine Tante ist eine erstaunliche Frau“, verkündete seine Stimme – sie kam schon wieder aus einer anderen Richtung. „Ich war sehr in Versuchung, mit ihr zu sprechen.“
Darüber wunderte sich Jerusha kaum. „Hättest du ruhig tun können, glaube ich. Schattenspringer gehören noch zu den harmloseren Wesen, mit denen sie per Du ist. Und warum genau hast du damals angefangen, mit mir zu sprechen?“
„Die pure Neugier, meine Liebe. Ich gelte als sehr verschroben unter meinesgleichen, weil ich mich für Menschen interessiere. Und du wirktest wie jemand, der nicht gleich schreiend wegläuft, wenn das Nichts mit ihm spricht.“
„Und ich bin doch schreiend weggelaufen.“
„Ja, aber dann bist du wiedergekommen.“
„Nicht nur Schattenspringer können neugierig sein, mein Lieber.“
Oft dachte Jerusha darüber nach, wer diese Jikena Pir war. Ein seltsamer Name! Welchem Clan gehörte sie an, und warum benutzte sie den Namen ihres Clans nicht? Vielleicht kam sie aus einem der Länder, die an Ouenda grenzten, aus Thoram, Jil´quanor oder Khedira. Was war so Besonderes an ihr, dass ihre Tante es für geraten hielt, sie quer durchs ganze Fürstentum zu ihr zu schicken?
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