Rund um die bloßgelegten Wurzeln der Eiche, unter der ich saß, auf der grauen, trockenen Erde, zwischen dem dürren Eichenlaub, den Eicheln, dem vertrockneten, bemoosten Reisig, dem gelblichgrünen Moos und den spärlichen, dünnen, grünen Grashälmchen wimmelte es von Ameisen. Eine hinter der andern hasteten sie auf den von ihnen selbst gebahnten Wegen vorwärts, einige eine Last schleppend, andere unbeladen. Ich nahm einen dürren Zweig und versperrte ihnen damit den Weg. Man muß es mitangesehen haben, wie sie, jede Gefahr verachtend, entweder unter dem Hindernis durchkrochen oder es überkletterten; aber einige, besonders die beladenen, verloren alle Fassung und wußten nichts anzufangen: sie blieben stehen, suchten einen Umweg, liefen zurück oder gelangten über den Zweig bis zu meiner Hand und schienen die Absicht zu haben, in den Ärmel meines Rockes zu schlüpfen. Von diesen interessanten Beobachtungen wurde ich durch einen gelbflügeligen Schmetterling abgelenkt, der mich äußerst verlockend umgaukelte. Sobald ich ihm aber meine Aufmerksamkeit zuwandte, flog er auf etwa zwei Schritte von mir fort, umflatterte eine halbverwelkte weiße Kleeblüte und ließ sich schließlich darauf nieder. Ich weiß nicht, ob er sich in der Sonne wärmte oder ob er Saft aus der Blume sog, aber ich sah es ihm an, daß er sich ungemein wohl fühlte. Er bewegte nur zuweilen die Flügelchen und schmiegte sich fest an die Blüte; schließlich blieb er unbeweglich sitzen. Ich stützte meinen Kopf in beide Hände und betrachtete ihn mit Vergnügen.
Plötzlich heulte Giran auf und riß mich so ungestüm vorwärts, daß ich beinahe hingefallen wäre. Ich blickte mich um. Am Waldessaum – den einen Löffel gesenkt, den andern gespitzt – sprang ein Hase umher. Mir schoß das Blut zu Kopfe; alles vergessend schrie ich etwas mit wilder Stimme, gab den Hund frei und stürmte vorwärts. Aber kaum hatte ich das getan, als ich's auch schon bereute: der Hase machte ein Männchen, hüpfte hoch auf – und ich sah ihn nicht wieder.
Aber wie sehr schämte ich mich, als hinter der Meute, die jetzt laut bellend die Spur des Hasen auf die Lichtung heraus verfolgte, aus dem Gestrüpp hervortretend »der Türke« erschien! Er hatte meinen Fehler (der darin bestand, daß ich nicht stillgehalten hatte) bemerkt und sagte nur mit einem Blick voller Verachtung: »Ei, Herr!« Aber man muß wissen, wie er das sagte! Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich wie einen Hasen hinten an seinen Sattel gehängt hätte.
Lange stand ich in höchster Verzweiflung auf demselben Fleck, rief den Hund nicht zurück und sagte nur immer wieder, indem ich mich auf die Schenkel schlug:
»Mein Gott, was hab' ich angerichtet!«
Ich hörte, wie die Meute weiterjagte, wie der Lärm sich auf die andere Seite des Gehölzes hinzog, wie »der Türke« mit seinem Riesenhorne die Hunde zurückrief, – aber ich rührte mich nicht von der Stelle.
Die Jagd war zu Ende. Im Schatten der jungen Birken wurde ein Teppich ausgebreitet, auf dem sich jetzt die ganze Gesellschaft im Kreise lagerte. Gabriel, der Küchenmeister, drückte das grüne, saftige Gras neben sich nieder, wischte Teller ab und holte aus einer Schachtel in Blätter gewickelte Pflaumen und Pfirsiche hervor. Durch die grünen Zweige der jungen Birken schien die Sonne und warf auf den Teppich, auf meine Füße und sogar auf die schweißbedeckte Glatze Gabriels runde, schwankende Lichtflecken. Der leichte Wind, der durch das Laub der Bäume, durch meine Haare und über mein erhitztes Gesicht wehte, erfrischte mich außerordentlich.
Als wir unsern Anteil am Gefrornen und an den Früchten erhalten hatten, gab es für uns auf dem Teppich nichts mehr zu tun, und trotz der schräg fallenden, glühenden Strahlen der Sonne standen wir auf und gingen spielen.
»Also was spielen wir?« fragte Ljubotschka, mit den Augen blinzelnd und auf dem Grase umherhüpfend, »vielleicht Robinson?«
»Nein, das ist langweilig«, sagte Wolodja, der sich faul ins Gras geworfen hatte und an einem Blatt kaute. »Immer und ewig Robinson! Wenn ihr schon durchaus etwas tun wollt, so laßt uns lieber eine kleine Laube bauen.«
Wolodja machte sich sehr wichtig: wahrscheinlich war er stolz darauf, daß er auf einem Jagdpferde geritten war; er tat, als wäre er sehr müde. Vielleicht auch hatte er schon zu viel gesunden Verstand und zu wenig Einbildungskraft, um sich am Robinsonspiel genügend zu ergötzen. Dieses Spiel bestand in der Darstellung von Szenen aus »Robinson suisse«, den wir nicht lange zuvor gelesen hatten.
»Ach bitte, warum willst du uns nicht das Vergnügen machen?« bettelten die Mädchen; »du wirst Charles sein, oder Ernest, oder der Vater, was du willst«, sagte Katjenka, indem sie sich bemühte, ihn am Rockärmel in die Höhe zu ziehen.
»Ich mag wirklich nicht, es ist langweilig«, entgegnete Wolodja, sich reckend und mit selbstgefälligem Lächeln.
»Da wär's doch besser gewesen, zu Hause zu sitzen, wenn niemand spielen will«, stammelte Ljubotschka unter Tränen. Sie war eine schreckliche Heulliese.
»Na, so kommt, nur wein' bitte nicht, ich kann das nicht ausstehen.«
Wolodjas Herablassung bereitete uns sehr wenig Vergnügen, im Gegenteil: sein träges und gelangweiltes Aussehen zerstörte den ganzen Zauber des Spieles. Als wir uns niedersetzten und – in der Einbildung, daß wir auf den Fischfang fahren – aus allen Kräften zu rudern anfingen, saß Wolodja mit gekreuzten Armen da, in einer Stellung, die nicht die geringste Ähnlichkeit hatte mit derjenigen eines Fischers. Ich sagte ihm das, aber er antwortete, daß wir durch unser stärkeres oder schwächeres Armschwenken weder etwas gewinnen noch verlieren, da wir ja doch nicht von der Stelle kämen. Ich mußte ihm unwillkürlich recht geben. Als ich, einen Gang auf die Jagd darstellend, mit einem Stocke auf der Schulter, dem Walde zuging, legte sich Wolodja mit unterm Kopf verschränkten Händen auf den Rücken und sagte mir, ich solle annehmen, daß auch er zur Jagd gehe. Ein solches Benehmen und solche Reden wirkten abkühlend auf unseren Spieleifer und waren sehr unangenehm, um so mehr, als man im Grunde seines Herzens zugeben mußte, daß Wolodja vernünftig handelte.
Ich weiß ja selbst, daß man mit einem Stocke nicht schießen, geschweige denn einen Vogel töten kann. Es ist nur Spiel. Aber wenn man so urteilt, so kann man ja auch nicht auf Stühlen spazieren fahren, und doch weiß Wolodja noch recht gut, denke ich, wie wir an langen Winterabenden einen Lehnstuhl mit Tüchern bedeckten und aus ihm einen Wagen machten; der eine von uns spielte den Kutscher, der andere den Lakai, die Mädchen saßen in der Mitte, drei Stühle bildeten das Dreigespann – und wir machten uns auf die Reise. Und welch verschiedene Abenteuer erlebte man auf diese Art, und wie lustig und schnell vergingen die Winterabende! – Wenn man nur an die Wirklichkeit denken soll, kann kein Spiel zustande kommen. Und wenn das Spiel aufhört, was bleibt da übrig?
Etwas wie eine erste Liebe
In der Einbildung, daß sie irgend welche amerikanische Früchte vom Baume pflückte, riß Ljubotschka ein Blatt mit einer riesigen Raupe ab, warf es entsetzt zu Boden, hob die Hände hoch und sprang zurück, als fürchte sie, bespritzt zu werden. Das Spiel hörte auf; wir alle warfen uns ins Gras und steckten die Köpfe zusammen, um das Wundertier anzustaunen.
Ich blickte über die Schulter Katjenkas, welche sich bemühte, die Raupe auf ein Blatt zu bringen, das sie ihr vorhielt.
Ich habe bemerkt, daß viele Mädchen die Gewohnheit haben, mit den Schultern zu zucken, um durch diese Bewegung den herabsinkenden Halsausschnitt des Kleides zurechtzurücken. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß Mimi sich über diese Bewegung immer ärgerte und oft sagte: »C'est une geste de femme de chambre.« Über die Raupe gebeugt, machte Katjenka jetzt wieder diese Bewegung, und im selben Moment lüftete der Wind das Halstuch auf ihrem weißen Hälschen, das kaum zwei Finger breit von meinen Lippen entfernt war. Ich blickte hin und drückte einen herzhaften Kuss auf Katjenkas Schulter. Sie drehte sich nicht um, aber ich bemerkte, daß sie sehr rot wurde. Wolodja sagte, ohne den Kopf zu heben, verächtlich:
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