LUNATA
Kindheit
Kindheit
© 1882 Lew Tolstoi
Originaltitel Dětstvo
Aus dem Russischen von Hanny Brentano
Umschlagbild: Ramsay Richard Reinagle
© Lunata Berlin 2020
Der Hauslehrer Karl Iwanowitsch
Maman
Papa
Der Unterricht
Der Idiot
Vorbereitungen zur Jagd
Die Jagd
Spiele
Etwas wie eine erste Liebe
Was mein Vater für ein Mann war
Beschäftigungen im Arbeitszimmer und im Salon
Grischa
Natalia Sawischna
Die Trennung
Kindheit
Das Gedicht
Die Fürstin Kornakow
Fürst Iwan Iwanowitsch
Die Iwins
Die Gäste kommen
Vor der Mazurka
Die Mazurka
Nach der Mazurka
Im Bett
Der Brief
Was uns auf dem Lande erwartete
Trauer
Die letzten traurigen Erinnerungen
Der Hauslehrer Karl Iwanowitsch
Am 12. August 18.., genau am dritten Tage nach meinem Geburtstage, an dem ich zehn Jahre alt geworden war und so wundervolle Geschenke erhalten hatte, weckte mich Karl Iwanowitsch um sieben Uhr früh auf, indem er gerade über meinem Kopfe mit einer Fliegenklappe – Zuckerhutpapier an einem Stocke – nach einer Fliege schlug. Er tat das so ungeschickt, daß er das Bildchen meines Schutzheiligen, welches an der Eichenwand meines Bettes hing, berührte, und daß mir die getötete Fliege gerade auf den Kopf fiel. Ich steckte die Nase unter der Bettdecke hervor, hielt das Heiligenbild, das noch immer hin und her schaukelte, mit der Hand an, warf die tote Fliege auf den Fußboden und blickte mit zwar verschlafenen, aber bösen Augen auf Karl Iwanowitsch. Der aber – in buntem, wattiertem Schlafrock, mit einem Gürtel aus gleichem Stoff umgürtet, ein rotes, gestricktes Käppchen mit Troddel auf dem Kopfe und weiche Ziegenlederschuhe an den Füßen – fuhr fort, an den Wänden entlang zu gehen, nach den Fliegen zu zielen und zu klatschen.
»Ich bin zwar noch klein«, dachte ich, »aber dennoch, warum stört er mich? Warum schlägt er nicht bei Wolodjas Bett nach den Fliegen? Dort sind doch so viele! Aber Wolodja ist älter als ich, und ich bin der Allerkleinste, daher quält er mich. Sein Leben lang denkt er nur nach«, murmelte ich, »wie er mir etwas Unangenehmes zufügen könnte. Er sieht sehr gut, daß er mich aufgeweckt und erschreckt hat, tut aber so, als merke er nichts ... Ein unausstehlicher Mensch! Und der Schlafrock und das Käppchen und die Troddel – alles ist unausstehlich!«
Während ich so in Gedanken meinem Ärger über Karl Iwanowitsch Ausdruck gab, trat er an sein Bett, sah nach der Uhr, die über dem Bett in einem perlgestickten Pantöffelchen hing, hing die Fliegenklappe an den Nagel und wandte sich in sichtlich ausgezeichneter Laune zu uns.
»Auf, Kinder, auf! 's ist Zeit! Die Mutter ist schon im Saal!« rief er mit seiner gutmütigen deutschen Stimme in seiner Muttersprache, dann trat er an mein Bett, setzte sich am Fußende nieder und zog die Tabaksdose aus der Tasche. Ich stellte mich schlafend. Karl Iwanowitsch nahm eine Prise, putzte seine Nase, schnalzte mit den Fingern, und dann erst widmete er sich mir. Leise lachend begann er meine Fußsohlen zu kitzeln.
»Nun, nun, Faulenzer!« sagte er.
So sehr ich auch das Kitzeln fürchtete, sprang ich doch nicht aus dem Bett und antwortete auch nicht; ich grub den Kopf noch tiefer in die Kissen, strampelte aus Leibeskräften mit den Beinen und bot alles auf, um das Lachen zu verbeißen.
»Wie er gut ist, und wie er uns liebt! Und ich konnte schlecht von ihm denken!« sagte ich mir. Ich war ärgerlich über mich selbst und über Karl Iwanowitsch; mir war halb nach Lachen und halb nach Weinen zumute: meine Nerven waren erregt.
»Ach lassen Sie, Karl Iwanowitsch!« rief ich mit Tränen in den Augen, den Kopf aus den Kissen hervorsteckend.
Karl Iwanowitsch war verwundert, ließ meine Sohlen in Ruhe und fing an, mich besorgt auszufragen: was mir fehle? Ob ich etwas Schlechtes geträumt habe? – Sein gutes deutsches Gesicht, die Teilnahme, mit welcher er sich bemühte, die Ursache meiner Tränen zu erraten, ließen diese noch reichlicher fließen: ich schämte mich, und es war mir unverständlich, wie ich einen Augenblick früher Karl Iwanowitsch nicht lieben und seinen Schlafrock, das Käppchen und die Troddel unausstehlich finden konnte; jetzt erschien mir das alles im Gegenteil außerordentlich lieb, und sogar die Troddel kam mir wie ein deutlicher Beweis seiner Güte vor. Ich erzählte ihm, daß ich wegen eines bösen Traumes weinte: ich hätte geträumt, daß Maman gestorben sei und beerdigt werden sollte. Das alles erfand ich, weil ich mich gar nicht mehr erinnerte, was ich in dieser Nacht geträumt hatte. Aber als Karl Iwanowitsch, durch meine Erzählung gerührt, mich zu trösten und zu beruhigen anfing, schien es mir, als hätte ich wirklich so schrecklich geträumt, und meine Tränen strömten nun schon aus anderem Grunde.
Als Karl Iwanowitsch mich verlassen hatte und ich, im Bette aufrecht sitzend, die Strümpfe auf meine kleinen Füße zog, versiegten die Tränen allmählich, doch die trüben Gedanken an den erfundenen Traum verließen mich nicht. Unser Instruktor Nikolaj trat ein, ein kleines, reinliches Männchen, immer ernst, pünktlich, ehrerbietig und sehr befreundet mit Karl Iwanowitsch. Er brachte unsere Kleider und Schuhe: für Wolodja Stiefel, für mich immer noch die unausstehlichen Schuhe mit Schleifchen. In seiner Gegenwart hätte ich mich geschämt zu weinen, auch schien die Morgensonne so lustig durchs Fenster, und Wolodja, über die Waschschüssel gebeugt, ahmte Maria Iwanowna (die Gouvernante meiner Schwester) nach und lachte dazu so lustig und laut, daß sogar der ernste Nikolaj, der mit dem Handtuch über der Schulter, der Seife in der einen und dem Wasserkrug in der andern Hand neben ihm stand, lächelnd sagte:
»Hören Sie doch auf, Wladimir Petrowitsch; bitte, waschen Sie sich!«
Ich war ganz heiter geworden.
»Sind Sie bald fertig?« ließ sich Karl Iwanowitsch aus dem Unterrichtszimmer vernehmen. Seine Stimme klang streng und hatte nicht mehr jenen Ausdruck von Güte, der mich zu Tränen gerührt hatte. Im Schulzimmer war Karl Iwanowitsch ein ganz andrer Mensch: dort war er Lehrer. Ich zog mich schnell an, wusch mich und folgte seinem Rufe noch mit der Bürste in der Hand, meine nassen Haare glättend.
Karl Iwanowitsch saß, mit der Brille auf der Nase und einem Buche in der Hand, auf seinem gewöhnlichen Platze zwischen Tür und Fenster. Links von der Tür befanden sich zwei Bücherbretter: eines für uns Kinder, das andere für Karl Iwanowitsch – sein »eigenes«. Auf dem unsrigen standen Bücher jeder Art, Lehrbücher und Nichtlehrbücher, die einen aufrecht, die andern liegend. Nur zwei große Bände Histoire des voyages in rotem Einband lehnten würdevoll an der Wand; dann aber folgten lange, dicke, große, kleine Bücher, Deckel ohne Bücher und Bücher ohne Deckel; gewöhnlich wurde alles dort hineingestopft und -gedrückt, wenn es hieß, vor der Pause müsse die »Bibliothek« in Ordnung gebracht werden, wie Karl Iwanowitsch dieses bescheidene Bücherbrett hochtrabend nannte. Die Büchersammlung auf seinem Privatbrett war, wenn auch nicht so groß wie die unsere, so doch noch verschiedenartiger. Ich erinnere mich an drei Bücher: eine deutsche Broschüre über das Düngen von Kohlgärten – ohne Einband; einen Band der Geschichte des siebenjährigen Krieges – in Pergament, mit einer verbrannten Ecke; und ein vollständiges Lehrbuch der Hydrostatik. Karl Iwanowitsch verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit Lektüre und hatte sich dadurch sogar seine Augen verdorben, er las aber nichts andres als diese Bücher und »Die nordische Biene«. 1
Unter den Gegenständen, die auf dem Bücherbrett von Karl Iwanowitsch herumlagen, war einer, welcher ihn mir ganz besonders ins Gedächtnis ruft. Es war eine Scheibe aus Pappe in einem hölzernen Fuße, in dem sich die Scheibe durch kleine Zapfen bewegen ließ. Auf die Scheibe war ein Bild geklebt, welches die Karikatur irgend einer Dame und ihres Friseurs darstellte. Karl Iwanowitsch war sehr geschickt in Papparbeiten, und diese Scheibe hatte er selbst erfunden und zum Schutze seiner schwachen Augen gegen grelles Licht hergestellt.
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