»Wo ist denn dein Fahrrad?«, fragt er.
»Ich bin heute nicht mit dem Fahrrad gekommen«, antworte ich, und seine Miene verfinstert sich.
»Ich will nicht laufen«, erklärt Emil. »Ich will in den Kindersitz.«
»Es ist doch nicht weit«, versuche ich es mit Geduld. »Nur zehn Minuten.«
»Zehn Minuten ist nicht nur . Zehn Minuten ist viel. Du bist zehn Minuten zu spät gekommen, und ich hab’ gewartet. Jetzt bin ich müde.«
Ich blicke ihm in die Augen.
»Und was schlägst du vor?«, frage ich ihn und warte.
Er überlegt.
»Du läufst nach Hause und holst dein Fahrrad«, sagt er dann. »Ich warte hier.«
»Oder ich laufe nach Hause und bleibe da«, sage ich. »Du kannst gern hier warten, bis die Kita morgen wieder aufmacht.«
»Morgen ist keine Kita, morgen ist Wochenende«, entgegnet er. »Außerdem darfst du das nicht.«
»Und wieso nicht?«
»Weil du meine Mama bist und du auf mich aufpassen musst«, erklärt er.
Wenn er so was sagt, erweicht es mir immer das Herz. Ich strecke meine Hand aus.
»Komm!«, sage ich sanft.
Er blickt einen Moment lang auf meine Hand. Schließlich ergreift er sie und stapft ohne ein weiteres Wort los.
Als wir nach Hause kommen, sind Gwenael und Désirée bereits da.
»Mama!«, ruft Désirée freudig, als sie die Wohnungstür hört, und kommt auf mich zugestürmt.
»Hallo, mein Schatz«, sage ich und schließe sie in die Arme. »Wie war’s in der Schule?«
»Frau Bauer hat gesagt, du musst das Geld für die Klassenkasse noch bezahlen.«
Ach, ja. »Mach’ ich.«
»Aber heute.«
»Versprochen.«
»Wo ist denn dein Bruder?«, frage ich sie, nachdem ich meine Schuhe ausgezogen und meine Tasche abgelegt habe.
»In seinem Sessel.« Désirée hüpft fröhlich von einem Bein aufs andere.
»Er liest«, fügt sie hinzu und rollt mit den Augen, als wäre unverständlich, wie jemand freiwillig so etwas tun könnte.
Wie die Grafs haben auch wir eine Wohnküche. Kleiner. Älter. Weniger aufgeräumt und vor allen Dingen mit deutlich weniger hochwertigem Mobiliar ausgestattet. Das neueste Möbelstück in unserer bunten Sammlung ist ein ziemlich siffiger Sessel, den Gwenael und Désirée vor ein paar Wochen auf dem Schulweg auf der Straße aufgegabelt haben. Er ist nicht nur siffig, sondern auch hässlich, was Gwenael nicht stört, denn er ist bequem.
»Alles klar?«, frage ich ihn, die Wohnküche betretend.
»Ja«, sagt er, ohne von seinem Buch aufzublicken.
»Gwen hat in Mathe eine Sechs«, verkündet Désirée.
»Was?!«, rufe ich aus. »Das kann nicht sein. Wirklich, Gwenael?«
Er reagiert nicht, sondern starrt nur auf sein Buch.
»Gwenael? Stimmt das?«
Langsam wendet er den Kopf mir zu.
»Was?«, fragt er, obwohl er genau weiß, worum es geht.
»Stimmt es, dass du in Mathe eine Sechs bekommen hast?«
Er zuckt nur mit den Schultern.
»Ich war nicht so gut drauf«, sagt er gleichgültig.
»Nicht so gut drauf??«, bricht es aus mir heraus, bevor ich mich kontrollieren kann, »und dann schreibst du eine SECHS???«
Er zuckt etwas zusammen, und im selben Moment tut mir mein Ausbruch leid. Aber ich habe schon zu viele Sorgen. Gwenaels Mathenoten gehörten bis vor zwei Minuten nicht dazu.
»Das war die letzte Klassenarbeit des Schuljahres, Gwenael. Wie konnte das passieren?«
»Weiß nicht«, erwidert er defensiv.
»Kann ich das mal sehen?«
Er weiß, dass das keine wirkliche Frage ist. Langsam erhebt er sich aus seinem Sessel, schlurft zu seinem Schulranzen und kommt schließlich mit einem Heft zu mir. Ich schlage es auf und starre auf das, was da in roter Tinte unter der letzten Klassenarbeit steht:
2 von 52 Punkten. Ungenügend. Note: 6.
Und dann die Unterschrift des Lehrers.
Ich sehe ein paar der Rechnungen an. Schriftliche Division und Multiplikation. Ein paar Textaufgaben, bei denen ich auch überlegen muss. Rechnen mit Distanzen in Metern und Kilometern und mit Zeiten. Gwenael hat überall in sehr sauberer Handschrift Ergebnisse hingeschrieben. Und sie sind tatsächlich bis auf die zwei ersten Aufgaben, die recht einfach sind, alle falsch.
»Du musst das unterschreiben«, sagt Gwenael.
So was unterschreibe ich nicht!, will ich ihn anbrüllen. Dann atme ich tief durch und halte meine Hand auf. Wortlos reicht er mir einen Stift, und widerstrebend setze ich meine Unterschrift unter die Klassenarbeit.
»Wie war’s sonst so in der Schule?«, frage ich ihn und bemühe mich um einen versöhnlichen Tonfall.
»Frau Wagner will, dass du Montagmittag in die Schule kommst«, antwortet Gwenael.
»Du meinst, Herr Stein.« Der ist nämlich der Mathelehrer. Frau Wagner ist Gwenaels Klassenlehrerin.
»Nein, Frau Wagner. Hier.« Er reicht mir einen Zettel. Darauf steht:
Sehr geehrte Frau Nussbaum,
Gwenael gibt mir in letzter Zeit Grund zur Sorge. Ich möchte das gern mit Ihnen besprechen und bitte Sie, mich am Montag um 12.30 Uhr in der Schule zu treffen.
Mit freundlichem Gruß
Elisabeth Wagner
Ich blicke von dem Blatt zu Gwenael und dann wieder auf das Blatt. Am Montag um 12.30 Uhr kann ich nicht. Da putze ich bei den Kramers.
»Gwenael, kannst du mir bitte sagen, was das bedeutet?«, frage ich.
»Ich weiß es nicht«, sagt er.
Ich weiß, dass das nicht stimmt. Er weiß genau, worum es geht. Und er weiß, dass ich das weiß. Dass er sich trotzdem dumm stellt, muss einen Grund haben. Da ich spüre, wie auch Emil und selbst Désirée mich etwas eingeschüchtert ansehen, lasse ich die Sache vorerst auf sich beruhen.
»Habt ihr Hausaufgaben auf?«, wechsele ich das Thema.
»Schon gemacht«, antwortet Gwenael.
»Und du, Désirée?«
»Ich nicht«, singt sie. Sie ist schon wieder fröhlich.
»Du hast keine auf oder du hast sie noch nicht gemacht?«
»Hab’ sie nicht gemacht«, sagt sie sorglos, während sie einen Kopfstand auf Gwenaels nun freiem Sessel probiert.
»Und wieso nicht?«, frage ich.
»Weil morgen Wochenende ist!«, antwortet sie, jedes Wort betonend, mit dem Kopf nach unten, sodass ihr Gesicht rot anläuft. Sie ist dabei so unverschämt fröhlich, dass ich lachen muss. Désirée ist unser Sonnenschein.
Später mache ich Spaghetti mit einer einfachen Tomatensoße aus dem Glas. Das Lieblingsgericht aller drei Kinder. Alle sind wieder frohen Mutes; Emil scheint seine angebliche Müdigkeit vergessen zu haben und Gwenael seine Sechs in Mathe auch.
»Wer liest heute Abend die Geschichte vor?«, frage ich, als wir den Tisch gemeinsam abgeräumt haben.
»Du!«, rufen alle drei wie aus einem Munde.
»Na gut«, erwidere ich, »aber ich suche das Buch aus.«
»OK, aber nich’ wieder das mit den komischen Namen«, sagt Emil.
»Ja, genau, nicht die griechische Melodie«, stimmt Désirée zu.
»Griechische Mythologie «, korrigiert Gwenael indigniert. »Ich würde sie gern hören. Ich mag Hermes und Apollon.«
»Ich mag Aphrodite«, flötet Désirée und grinst, als verstünde sie mit ihren sieben Jahren genau, wofür die Göttin der Liebe steht.
»Und ich, ich mag Cristiano Ronaldo«, verkündet Emil.
Gwenael und ich sehen uns an und rollen gleichzeitig mit den Augen.
»Wisst ihr was? Heute erzähle ich euch eine Geschichte vom Zauberer Fridolin«, entscheide ich, und drei Augenpaare beginnen zu leuchten.
Da wir außer der Wohnküche nur zwei Zimmer haben, schlafen die Kinder gemeinsam in einem Zimmer und ich in dem anderen. Hin und wieder will Emil bei mir schlafen. Und manchmal kommt Désirée mich nachts besuchen. Freitags jedoch schlafen wir immer zusammen im Zimmer der Kinder. Ihre Betten sind zwei alte Doppelmatratzen, die wir schon vor Jahren in den Straßen Berlins gefunden haben. Tagsüber legen wir sie übereinander, sodass mehr Platz ist, für die Nächte legen wir sie auf den alten Holzdielen nebeneinander.
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