Die Wohnung der Grafs ist wie immer verlassen. Die fünfzig Euro für die vier Stunden, die ich hier putzen soll, liegen wie immer auf der kleinen Kommode im Flur. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen habe, laufe ich kurz durch die Wohnung, um mir ein Bild von der Situation zu machen. Erleichtert stelle ich fest, dass die übliche Ordnung herrscht. Wenn ich mich ranhalte, schaffe ich es vielleicht in drei Stunden. Länger kann ich nicht bleiben, denn heute Nachmittag gebe ich einen meiner wenigen Yogakurse.
Gut kenne ich die Grafs nicht. Oder den Grafen und die Gräfin, wie ich sie nenne. Als sie mich vor drei Jahren eingestellt haben, um bei ihnen einmal pro Woche zu putzen, habe ich die Gräfin kennengelernt. Ich vermute, dass sie ungefähr in meinem Alter ist. Der Graf ist mir ein paar mal über den Weg gelaufen, weil er etwas zu Hause vergessen hatte. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig. Ich habe keine Ahnung, was genau sie tun; sie haben jedoch keine Kinder, und ich bin mir recht sicher, dass sie beide leitende Angestellte in irgendwelchen Unternehmen sind. Die Kommunikation mit ihnen läuft fast ausschließlich per WhatsApp, sie zahlen verlässlich, und ihre Wohnung ist nie übermäßig schmutzig. Sie ist groß, vielleicht hundertfünfzig Quadratmeter, verfügt über zwei Schlafzimmer, zwei Badezimmer und ein großes Wohnzimmer mit eleganter offener Küche und natürlich einem großen Balkon. Über die Jahre habe ich mir ein Bild von den Grafs gemacht. Ich bin mir sicher, dass sie beide deutlich mehr verdienen als die fünfzigtausend Euro, die Fair^Made einer Executive Assistentin im Marketing bezahlt. Sie können sich alles leisten, was sie wollen, davon zeugt ihre Wohnung, doch richtig reich sind sie nicht. Am Schlüsselbrett hängt ein Schlüssel zu einem BMW. Ein recht neuer 5er, wie ich von einem Abstecher in ihre Garage vor ein paar Monaten weiß. Manchmal frage ich mich, in welcher Lebenssituation die Grafs sind. Ob sie wie Viktoria König voll und ganz in ihrer Arbeit aufgehen? Genießen sie ihren relativen Wohlstand? Sind sie glücklich miteinander? Oder befinden sie sich in einer Midlife-Crisis? Wenn ich Veränderungen in ihrer Wohnung entdecke, frage ich mich manchmal, was diese wohl bedeuten. Vor gut einem Jahr hat der Graf sich ein Paar neue Laufschuhe der Marke Asics zugelegt, etwa zeitgleich tauchte im Gästezimmer ein Hometrainer auf. Vielleicht haben die Grafs den Beschluss gefasst, mehr Sport zu treiben. Oder hatte die Gräfin den Grafen darauf hingewiesen, dass er etwas zu viel Bauch bekam? Oder trainierte der Graf für einen Marathon? Letzteres hat sich als unwahrscheinlich herausgestellt, denn die Laufschuhe werden nur selten genutzt. Einmal habe ich sogar die Schnürsenkel der beiden Schuhe aneinandergebunden – und nach vier Wochen hatte sich das nicht geändert. Ein andermal habe ich einen ziemlich großen Dildo in einem Karton unter dem Ehebett gefunden, der eine Woche zuvor mit Sicherheit noch nicht dort gewesen war. Hatte der Graf ihn der Gräfin geschenkt? Ich gestattete mir einen einminütigen imaginären Abstecher in das Leben der Grafs. Mehr nicht. Meine letzte sexuelle Beziehung war die mit Guillaume. Als wir Emil vor sechs Jahren gezeugt haben, hatten wir das letzte Mal Sex. Dass Emil dabei passieren würde, war nicht geplant. Als sich die Schwangerschaft kurz darauf offenbarte, riss Guillaume aus.
»Trois, c’est trop!«, schrie er. »J’en peux plus!« Und dann war er weg. Ich glaube nicht, dass es viel geändert hat. Die Ankündigung, dass Emil auf dem Weg war, mag die Dinge beschleunigt haben. Doch auch mit Gwenael und Désirée war Guillaume bereits überfordert. Es war ihm nie gelungen, eine väterliche Beziehung zu ihnen aufzubauen. Er hatte es auch nie wirklich versucht. Ob drei für mich allein nicht möglicherweise auch zu viel sein könnte, hat ihn nie interessiert.
Nach knapp drei Stunden ist die Wohnung der Grafs sauber. OK, die Schlafzimmerfenster habe ich nicht mehr geschafft.
Als ich vor der Kommode im Flur stehe, zögere ich einen Moment. Eigentlich stehen mir die fünfzig Euro nicht zu. Fünfzig Euro für vier Stunden. Das ist die Vereinbarung, an die ich mich auch fast immer halte. Ich frage mich, was Viktoria König tun würde. Würde sie den Schein nehmen, dann aber zwölf Euro fünfzig als Wechselgeld hinlegen? Mit einer entschuldigenden Notiz? Oder würde sie beim nächsten Mal eine Stunde früher kommen? Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie eine dieser Optionen wählen würde. Andererseits würde Viktoria König nie die Wohnung anderer Leute putzen. Und ich bin nicht sie. Ich bin ich. Ich kann mir diese Ehrlichkeit nicht leisten. Also stecke ich das Geld ein und eile los.
Der Yogakurs, den ich freitagnachmittags gebe, dauert neunzig Minuten und findet jede Woche statt. Ich unterrichte drei Mütter Mitte vierzig mit ihren Töchtern, die zwischen zwölf und vierzehn sind. Die drei Frauen gehören zu jenen Müttern, die sehr viel für ihre Kinder geopfert haben. Eine der drei arbeitet halbtags, eine andere freiberuflich als Übersetzerin, die Dritte arbeitet nicht. Alle drei sind für ihren Lebensstil auf die Gehälter ihrer Ehemänner angewiesen. Sie achten auf ihre Ernährung, kaufen fast ausschließlich Bio und machen Yoga mit ihren Töchtern, weil sie fest davon überzeugt sind, dass dies gut für die Mädchen ist. Wahrscheinlich haben sie recht. Sie nehmen das Training ernst, sind immer pünktlich und zahlen sechzig Euro für neunzig Minuten. Brutto. Denn von meiner Tätigkeit als Yogalehrerin weiß das Finanzamt, während es sich mit dem Putzen etwas anders verhält. Da die Stimmung mit den sechs Mädels , wie ich sie gern anspreche, immer gut ist, ist es mein Lieblingskurs. Hier kann sogar ich mich entspannen.
Der Kurs mit ihnen ist vor gut einem Jahr zustande gekommen, was ich meinem älteren Sohn Gwenael zu verdanken habe. Gwenael ist zehn, und einer seiner Klassenkameraden ist der Sohn einer der drei Frauen – und entsprechend der kleine Bruder eines der Mädchen.
Meist treffen wir uns bei einer der Familien zu Hause, wo sich ein riesiges Wohnzimmer ideal für Yoga eignet. Doch heute ist gutes Wetter, daher treffen wir uns im Volkspark Friedrichshain auf einer großen Wiese.
Nach dem Kurs bleiben die sechs Mädels im Park. Sie haben ein kleines Picknick vorbereitet, mit dem sie sich für ihre sportliche Leistung belohnen wollen. Sie laden mich ein, bei ihnen zu bleiben, doch ich lehne dankend ab. Wenn ich nicht spätestens in vierzig Minuten bei Emils Kita bin, wird er traurig. Normalerweise fahre ich mit dem Fahrrad. Doch heute bin ich wegen des Interviews bei Fair^Made mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren. Also haste ich zur nächsten Tram-Haltestelle und begebe mich auf den Weg quer durch Berlin.
Als ich bei der Kita ankomme, empfängt Emil mich mit vorwurfsvollem Blick.
»Du bist zu spät«, sagt er trotzig.
Ich gucke auf eine große Wanduhr. Er hat recht. Ich bin zehn Minuten später da als üblich. Eigentlich gibt es keine festen Abholzeiten, doch ab dem Moment, wo sein Freund Andy abgeholt wird, sitzt er vor der Uhr und zählt die Minuten. Andy wird von seinem Vater immer pünktlich um halb fünf abgeholt. Fünfzehn Minuten später darf ich kommen. Darauf haben Emil und ich uns geeinigt. Ich habe ihm erklärt, warum ich es früher nicht immer schaffen kann, und er hat das eingesehen. Aber fünfundzwanzig Minuten sind nicht OK.
»Es tut mir leid«, sage ich. Er ist in einer Phase, in der er sehr auf Vereinbarungen achtet. Deswegen versuche ich weder, mich herauszureden, noch weise ich darauf hin, dass ich ihn gestern eine halbe Stunde vor Andy abgeholt habe, was nur möglich war, weil die Eichners mir kurzfristig mitgeteilt hatten, dass ich diese Woche nicht zu putzen bräuchte, wodurch ich fünfzig Euro weniger im Portemonnaie habe.
Vor der Kita sieht er sich um.
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