12. August. Torch Creek. Haus von Ever Crest. Später Nachmittag.
Ever Crest stand vor dem Badezimmerspiegel und versuchte, einen halbwegs vernünftigen Lidstrich zu ziehen. Als der Kajalstift fast das Ende ihres Augenlids erreicht hatte, hörte sie, wie sich der Schlüssel im Schloss der Eingangstüre drehte und sie blinzelte unwillkürlich. Der Lidstrich war verrutscht. Genervt zog sie ein Kosmetiktuch aus der Box und wischte die schwarze Linie weg.
Das war mal wieder so eine grandiose Idee, dachte sie verärgert, legte ihre Schminkutensilien beiseite und blickte wieder in den Spiegel. Sie konzentrierte sich auf volle, dichte Wimpern und einen perfekten schwarzen Lidstrich und nur wenige Sekunden später blickten sie ebensolche Augen an. Einer der unschlagbaren Vorteile eines Gestaltwandlers. Zufrieden verließ sie das Badezimmer, um ihren Vater zu begrüßen.
„Hey, Dad“, rief sie fröhlich, den missglückten Schminkversuch längst vergessen.
Michael Crest räumte gerade ein paar Unterlagen vom Wohnzimmertisch in seinen Koffer, den er bereits für eine anstehende Geschäftsreise gepackt hatte. Er würde noch heute Abend nach Seattle fliegen.
„Du bist ja zu Hause, Schatz!“, erwiderte Michael lächelnd und drehte sich überrascht zu Ever um. „Wolltest du dich nicht mit George und deinen Freunden treffen?“
Ever stieß sich vom Türrahmen ab und nahm auf der Couch Platz. „Ja, ich muss auch gleich los“, sagte sie.
Er sah Ever bewundernd an, wie es nur ein Vater kann. Hübsch sah sie aus. Und erwachsen. „Wird George dich nach Hause bringen heute Abend?“
Ever errötete, als ihr Vater nach ihm fragte. Es fühlte sich seltsam an, mit ihm über dieses Thema zu sprechen. „Ja“, antwortete sie schließlich. „Er sorgt sich immer sehr um mich.“
„Da bin ich sicher.“ Michael Crest lächelte seine Adoptivtochter nachsichtig an. „Weißt du, ich freue mich für dich. Genieße es. Nichts ist so schön wie die erste große Liebe.“
Ever riss erstaunt die Augenbrauen hoch. „Die meisten Väter reagieren anders auf den ersten festen Freund ihrer Tochter“, bemerkte sie grinsend.
„Nun, ich bin nicht wie die meisten Väter, nicht wahr?“, gab Michael trocken zurück. „Irgendwann musste es ja soweit sein. Und ich gebe zu, ich bin zufrieden mit deiner Wahl.“
„Echt jetzt?“, fragte Ever verblüfft. Wenn du wüsstest … schoss es durch ihren Kopf … dass der erste Freund deiner Tochter ein Vampir ist … dass deine Tochter selbst auch ein übernatürliches Wesen ist … Sie seufzte kaum hörbar.
„Ja, echt jetzt“, gab Michael lachend mit den Worten seiner Tochter zurück. „Er macht einen zuverlässigen Eindruck. Naja, und du bist immer pünktlich zu Hause, wenn du mit ihm unterwegs bist, das ist doch schon mal was.“
„Ich mag ihn sehr“, gab Ever dann zu. „Aber – wo wir gerade beim Thema Freunde sind …“ Ever zog schelmisch eine Augenbraue in die Höhe. „Bald ist mein Geburtstag.“
„Das habe ich nicht vergessen.“ Michael schmunzelte.
„Es ist mein achtzehnter.“
„Auch das ist mir vollkommen bewusst.“ Michael legte den Kopf schief und sah seine Adoptivtochter aufmerksam an. „Worauf willst du hinaus?“
„Naja, man wird ja nur einmal achtzehn und bald gehen viele aufs College oder fangen irgendwo irgendwelche Jobs an … kurzum: Ich würde gern noch einmal eine richtig große Party schmeißen.“
Michael seufzte. „Und ich nehme an, sie soll hier bei uns stattfinden?“
„Das wäre perfekt! Wenn das Wetter schön ist, gehen wir in den Garten und falls es regnet … naja, ich möchte keinen Raum mieten oder so, das ist immer so unpersönlich.“
Michael war wenig begeistert. „Eine Horde Teenager im Haus zu haben ist keine besonders verlockende Vorstellung.“
Ever hob tadelnd einen Zeigefinger. „Dad, das ist keine Horde, das sind meine Freunde. Und ich werde alles wieder aufräumen, versprochen. Du wirst am nächsten Tag gar nicht mehr merken, dass wir hier waren.“
Michael lachte ein wenig verzweifelt. „Aber lasst die Einrichtung heil, in Ordnung? Und bitte, bitte, lade nicht gleich die ganze Schule ein.“
Ever strahlte von einem Ohr zum anderen. „Danke, Dad. Du bist der Beste!“
„Ich weiß, ich weiß“, entgegnete Michael schicksalsergeben. „Hoffentlich bereue ich das nicht.“
„Keine Sorge, wirst du nicht!“ Ever sprühte vor Vorfreude, dann wurde sie mit einem Mal ernster. „Irgendwie ist es nur schade, dass Sam nicht dabei sein wird.“
„Sam?“, fragte Michael erstaunt. „Welcher Sam?“
„Georges Freund“, erklärte Ever. „Weißt du nicht mehr? Vor ein paar Wochen ist er mir nichts, dir nichts verschwunden.“
Michael schnaubte verständnislos. Er erinnerte sich wieder an den blonden Chaoten. „Zum Glück, wie ich meine. Ein richtiger Unruhestifter.“
„Dad!“, tadelte Ever. „Du kennst ihn nur nicht wirklich!“
„Und dabei möchte ich es auch belassen“, sagte Michael trocken. „Ich für meinen Teil bin heilfroh, dass er wieder gegangen ist.“ Er sah seine Tochter mit vielsagendem Blick an. „Und du solltest auch froh sein. Dieser Typ hätte dir nur Probleme gemacht, glaub mir. Und deiner Beziehung zu George hätte er auch nicht gut getan.“
Ever seufzte; es war sinnlos, es ihm zu erklären. Was hätte sie auch sagen sollen? Er wusste nicht, dass Sam ein gefallener Engel war – dass er ihr Leben gerettet hatte. Und er würde es auch nie erfahren. Sollte er von Sam denken, was er wollte. Ever wusste es besser.
12. August. Tom’s Bar & Grill. Früher Abend.
„Hey, wirst du wohl die Finger davon lassen?“ Ever lachte und verpasste Peter einen Klaps auf die Hand. „Das sind meine! Warte auf deinen eigenen Teller.“
Peter grinste nur frech und steckte sich die Kartoffelecke, die er gerade von Evers Teller gestohlen hatte, genüsslich in den Mund. „Ich habe Hunger. Und von fremden Tellern schmeckt es sowieso besser.“
Ever wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Ben schon mit zwei weiteren Tellern aus der Küche kam. Er stellte sie auf dem Tisch ab und zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran. „Rückt mal ein bisschen, ich will hier auch noch hin!“
Die ganze Clique hatte sich an diesem Abend in Tom’s Bar & Grill versammelt: Ever und ihre beste Freundin Issy, deren jüngerer Bruder Peter, außerdem Charlotte, die früher als geplant von Phoenix zurückgekehrt war. Man hatte ihre Bewerbung am College von Flagstaff angenommen und so kam sie zurück nach Torch Creek, um sich darauf vorzubereiten. Und natürlich Ben. Bens Eltern gehörte der Grill und eigentlich hätte er heute Abend Dienst gehabt, aber sein Vater hatte ihm freigegeben und stand nun selbst hinter der Theke. Die Zeit der Highschool war vorüber – für alle außer Peter, der noch ein ganzes Jahr vor sich hatte – und es würde nicht mehr allzu viele Gelegenheiten für die Freunde geben, einen Abend gemeinsam zu verbringen. Auch, wenn die meisten nur das benachbarte College in Flagstaff besuchen wollten, ihre unterschiedlichen Kurse und Prüfungen würden sie im schon ersten Jahr reichlich auf Trab halten.
„Es ist genug für alle da“, grinste Ben, nachdem er sich gesetzt hatte und zog einen der Teller zu sich heran. „Dad sorgt für Nachschub.“
„Was für ein Glück. Ich verhungere.“ Peter schnappte sich den zweiten Teller und begann zu essen.
„Mein Gott, man könnte meinen, du hättest seit dem Frühstück nichts mehr gekriegt“, schnaubte Issy. „Ist ja nicht so, dass du heute Mittag zu Hause keine doppelte Portion Maccaroni verdrückt hättest.“
Peter zog die Augenbrauen hoch. „Ich wachse noch“, stellte er zwischen zwei Bissen nüchtern fest. „Ich brauche das.“
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