Er öffnete die Bürotür und fand sich in einem lang gezogenen Flur wieder, an dessen Ende eine doppelte Wendeltreppe nach unten führte. Das war sein Weg. Unten angekommen öffneten sich sämtliche Türen zu Nebenräumen wie erhofft durch die Karte. Gleich im ersten Raum begrüßte ihn die altehrwürdige und der heutigen androgynen Ideologie erstaunlich entgegenkommende Hippolytstatue – eine zum Bischof Hippolyt umgearbeitete antike Frauenstatue, die ihn amüsiert den Kopf schütteln ließ.
Die Reihen von Regalen erschienen kilometerlang. Er zog eine kleine aber helle LED-Taschenlampe aus seiner Hosentasche und ließ den Lichtkegel über die Buchrücken wandern. Er wusste, dass die Bibliothek nach Themen sortiert war und innerhalb dieser chronologisch. Und natürlich wusste er, nach welchem Thema er suchte – doch die Zeit, aus der das Werk stammte, kannte er nicht genau. Deshalb war er gezwungen, zahlreiche Buchrücken zu lesen. Er fluchte innerlich. Zwar verstand er auf seltsame Weise jede Sprache dieser Erde, dennoch verlor er wertvolle Zeit. Irgendwann begann er, an der Glaubwürdigkeit seiner Quelle zu zweifeln, als sein Blick plötzlich auf ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Buch fiel, dessen Rücken unbeschriftet war. Einer Intuition folgend zog er es heraus und schlug es auf.
Es war offenbar ein Tagebuch. Er runzelte die Stirn.
Was zur Hölle hatte ein altes Tagebuch hier zu suchen? Er blinzelte verwirrt und blätterte ein paar Seiten weiter. Dann setzte sein Herz einen Schlag lang aus.
Das war kein gewöhnliches Tagebuch, es war das Tagebuch eines Gestaltwandlers. Eines Wesens, wie Ever es war. Ever. Der Gedanke an sie zog sein Inneres schmerzhaft zusammen. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sie damit aus seinen Erinnerungen verscheuchen und steckte das Büchlein hastig in seinen Rucksack. Sollte er das, was er suchte, nicht finden, so hätte er wenigstens diesen kleinen Schatz für … sie .
Er riss sich zusammen und suchte weiter. Die Buchstaben begannen vor seinen Augen zu flimmern. Konnte er überhaupt noch lesen? Oder würde er das Buch glatt übersehen, einfach weil er sich nicht mehr konzentrieren konnte?
Auf einmal ließ ein einziges Wort seine Sinne Alarm schlagen: Mal'ach . Das hebräische Wort für Bote. Das musste es ein, das Buch der Engel. Behutsam zog er das weiße Buch mit der goldenen Schrift zwischen den anderen Büchern hervor. Der Titel wiederholte sich vorn auf dem Einband, war verschnörkelt und tief in das helle Leder eingeprägt. Die Goldfarbe, mit der man die Buchstaben ausgemalt hatte, war weitestgehend abgeblättert. Dennoch bestand kein Zweifel: Es war das, was er suchte.
Kurz war er versucht, es aufzuschlagen und darin zu lesen – doch sein Verstand gewann die Oberhand. Es wurde Zeit, dass er hier verschwand. Er verstaute das schwere Werk in seinem Rucksack und machte sich auf den Weg zu der Treppe, über die er herunter gekommen war.
Das dumpfe Geräusch einer schweren Tür, die aufgeschoben wurde, ließ ihn zusammenzucken. Er warf einen hastigen Blick auf seine Armbanduhr: Es war nach ein Uhr morgens. Wer kam um diese Zeit auf die Idee, der Bibliothek einen Besuch abzustatten? Schnell knipste er seine Taschenlampe aus und verharrte mucksmäuschenstill.
Eine durchdringende Männerstimme rief etwas auf Italienisch, eine zweite Stimme fügte etwas hinzu. Es war die Aufforderung an ihn, herauszukommen und sich zu stellen. Aber woher wussten sie, dass er hier war? Es hatte keinen Alarm gegeben. Oder hatte man die zerbrochene Fensterscheibe entdeckt? Er biss sich auf die aristokratisch geschwungene Unterlippe. Das war jetzt wirklich ärgerlich. Er befand sich in einer der hintersten Ecken des Gebäudes und die Wachen würden an der Treppe sein, noch bevor er diese erreichen konnte. Er musste zum Haupteingang flüchten, das war der einzig mögliche Ausweg.
Er rannte los. Flink wie der Wind raste er zwischen den Reihen von Regalen hindurch, ohne genau zu wissen, ob er tatsächlich den richtigen Weg nahm. Die Männer hatten ihn jedoch längst gehört und rannten in seine Richtung. Er lief einfach weiter – er hatte ohnehin keine Wahl. Plötzlich tauchten zwei Schweizergardisten direkt am Ende eines lang gezogenen Ganges vor ihm auf. Zwei Gewehrmündungen waren auf den Flüchtenden gerichtet.
„Keine Bewegung!“, rief der eine. Sicher würden sie gleich auf ihn schießen.
5. August. Vatikanbibliothek. Tiefe Nacht.
Er senkte den Kopf und rannte los. Die beiden Wachen waren für einen Moment irritiert von dem wahnwitzigen Verhalten des Einbrechers. Einer von ihnen brüllte etwas in sein Funkgerät. Er ließ sich nicht beirren und rannte weiter. Blitzschnell war er bei ihnen angelangt, noch ehe sie reagieren konnten, und riss dem ersten das Gewehr aus der Hand. Ohne zu zögern schlug er dem Mann den Kolben an den Schädel, der sofort bewusstlos zu Boden ging. Der zweite Gardist begriff, dass mit dem Eindringling nicht zu spaßen war, und legte an. Doch er war den Bruchteil einer Sekunde zu langsam. Der Fremde packte den Lauf des Gewehrs mit unmenschlicher Kraft. Die abgefeuerte Kugel schoss haarscharf an seiner Brust vorbei und traf ihn in den linken Oberarm. Kein einziger Tropfen Blut quoll aus der Wunde. Da war einfach nur ein Loch, das sich bereits wieder schloss. Er holte aus und verpasste dem ungläubig starrenden Gardisten mit der Rechten einen heftigen Kinnhaken, sodass seine Kiefer hörbar zusammenkrachten, und auch dieser ging zu Boden.
Er schüttelte kurz seine Hand und das Gefühl des Schlages verschwand ebenso schnell wie die Schusswunde. Jedwede Verletzung seines Körpers heilte umgehend. Plötzlich erklang ein ohrenbetäubender Lärm, jemand hatte den Alarm ausgelöst. Ihm blieb nicht viel Zeit, in wenigen Sekunden würde hier die Hölle los sein. Er behielt das eine Gewehr und sprintete los. Der Gang, den er entlang lief, verbreiterte sich und wurde zu einem großzügigen Halbrund. Und dort war auch der Ausgang.
Die große Flügeltür wurde aufgerissen und weitere Wachen strömten herein; er ließ sich nicht beirren und rannte einfach weiter, direkt auf sie zu. Die Wachen legten ihre Gewehre an und brüllten durcheinander, doch sie zögerten, das Feuer zu eröffnen; zu groß war die Gefahr, die wertvollen Schätze in der Bibliothek zu treffen. Er hingegen zögerte nicht. Im Laufen zielte er auf eine der Lampen an der Decke und feuerte auf gut Glück. Er traf; die Lampe zerbarst in tausende kleine Glassplitter, welche auf die Gardisten herabregneten. Es gab noch viele weitere Lichtquellen in der Bibliothek, doch im Bereich des Eingangs war es die einzige gewesen. Erschrocken vom Knall und der plötzlichen Dunkelheit begannen die Wachen zu schießen; sogleich spürte er einen stechenden Schmerz in seiner linken Seite und im Oberschenkel. Er stöhnte auf, blieb abrupt stehen und legte das Gewehr an.
„Wollt ihr mich etwa aufhalten?“, brüllte er. „Dann versucht es doch!“ Er feuerte skrupellos in die Gruppe und einer der Männer, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, ging sofort zu Boden.
Dann stieß er sich mit aller Kraft ab und wirbelte dabei herum, wodurch er als Ziel schwerer zu treffen war. Im Landen riss er noch zwei der Wachen um und streckte sie mit Faustschlägen nieder. Die Tür war jetzt nur noch ein kurzes Stück entfernt. Eine weitere Kugel traf ihn, diesmal an der Rückseite des rechten Oberschenkels und er strauchelte. Mit einem wütenden Brüllen warf er sich nach vorn, packte den Griff der Tür und riss sie auf. Die Wachen kamen ihm nach, doch er war um ein Vielfaches schneller; er ignorierte die Schmerzen in seinem Bein und der Seite und rannte, so schnell er konnte, hinaus auf den Platz. Er hörte weitere Gewehrschüsse hinter sich, aber er wurde nicht noch einmal getroffen; wahrscheinlich war er schon viel zu weit weg. Er vergeudete keine Zeit damit, sich umzublicken, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf seine Flucht. Atemlos erreichte er die große Mauer, sprang ab und zog sich hinauf. Endlich warf er einen Blick zurück: Die Wachen, die ihn verfolgten, riefen wild durcheinander und liefen ihm nach, doch mussten sie mittlerweile einsehen, dass Schießen zwecklos war. Er grinste unverschämt, winkte ihnen zu und verschwand auf der anderen Seite der Mauer in der Nacht.
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