In diesem Augenblick kamen die zwei uniformierten Beamten der Schutzpolizei in den Raum und Mareke sah zu ihnen hoch: „Rufen Sie bitte einen Arzt! Und die Spurensicherung soll kommen! Den Herrn Polizeirat verhaften Sie bitte wegen des Verdachts des Mordes an Frau Helene Zimmersohn!“ Der Streifenführer hatte offensichtlich nie ein gutes Verhältnis zu seinem Vorgesetzten Polizeirat Mertens gehabt und es war ihm sichtlich ein Vergnügen, seinen Vorgesetzten zu verhaften. „Herr Mertens, wir verhaften Sie wegen des Verdachtes des Mordes an der Lehrerin Zimmersohn. Alles was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie vor Gericht verwendet werden. Sie haben das Recht zu schweigen und einen Rechtsanwalt Ihrer Wahl auf dem Präsidium hinzuzuziehen.“ Sein Kollege legte Horst Mertens die Handschellen an, obwohl ihm dabei gar nicht wohl war.
Als sie ihren Vorgesetzten aus dem Zimmer führten, rief Mareke noch hinterher: „Die Spusi soll auch sein Büro im Präsidium untersuchen.“ Der Streifenführer grinste: „Das wird dem Leiter der Spusi ein Vergnügen sein, der konnte diesen Herrn noch weniger leiden als ich.“ Mareke wollte erst etwas sagen und den Beamten zur Ordnung rufen. Sie konnte seine Reaktion aber gut verstehen und ließ es dabei bewenden.
Später im Präsidium, als Herr Mertens zwei Rechtsanwälte seiner Wahl dabei hatte und er sein Geständnis ablegte, kam heraus, dass sich das Ganze am Ewigen Meer um eine menschliche Tragödie handelte. Herr Mertens hatte sich im Chatraum in die Schulleiterin wie ein Pennäler über beide Ohren verliebt und er wusste nicht aus noch ein, was er machen wollte. Er hatte dies seiner Frau am Vorabend gebeichtet und ihr mitgeteilt, dass er sich von ihr scheiden lassen wollte.
Es war seine Idee gewesen, mit der Schulleiterin am Ewigen Meer spazieren zu gehen, und hatte sich schon den ganzen Tag auf das abendliche Treffen gefreut. Als er ihr offenbart hatte, die Scheidung von seiner Ehefrau einzureichen, um sie zu heiraten, hatte sie ihn kalt angesehen und gemeint: „Dich Schlappschwanz würde ich nie heiraten. Ich habe im Schweineraum einen wirklich reichen und gutaussehenden Landwirt kennengelernt. Der will mich heiraten. Ich wollte dir heute sagen, dass wir uns nie mehr wiedersehen werden.“
Herr Mertens war vor Wut außer sich und hatte durch einen puren Zufall auf dem Boden neben einem halbgeschälten Apfel das blaue Messer gefunden.
Später erkannten die Richterin und die Schöffen auf eine Tat im Affekt und verhängten eine Gefängnisstrafe von sieben Jahren. Seine Frau umschlang ihn im Gerichtssaal und versprach ihm, auf ihn zu warten. Sie würde gerne mit ihm einen Neuanfang probieren. Mareke war als Zeugin im Prozess geladen und als sie den Ausspruch dieser Frau hörte, sah sie vor ihrem geistigen Auge ihre Mutter mit verweinten Augen vor sich und fragte sich, was ihre Mutter in diesem Fall wohl sagen würde. Die Presse titelte nach dem Prozess: „Gefängnisbonus für den Polizeirat Mertens vom Emdener Polizeipräsidium. Nur 7 Jahre für einen kaltblütigen Mord. Aber eine 90-jährige Oma aus Bremen wird für Schwarzfahren in 43 Fällen für 2 Jahre eingelocht. Ist dies Gerechtigkeit?“
3. Geschichte: Die Floristin
Nein, man konnte wirklich nicht sagen, dass ihr nach all den langen Jahren das frühe Aufstehen leichtfiel. An sich hätte sie darin Routine haben müssen, denn hier auf dem Blumenmarkt in Emden war es wie überall auf den Blumenmärkten, frühes Erscheinen wurde mit guter Ware belohnt. Aber es war nicht leicht, jetzt bei diesem nasskalten und nebeligen Wetter Anfang November an der Küste der Nordsee aus den Federn zu kommen. Zumal, wenn man starke Schmerzen im Rücken verspürte und das nächtliche Liegen die Knochen versteifte. So, als weigerten sich die Gelenke, aus der gemütlichen Ruhephase ihren von der Natur vorgesehenen Dienst zu verrichten, sich nämlich zu krümmen und elastisch zu werden. Ricarda Harms-Otte war schon am Ende der Sechzig angekommen, wie man so landläufig sagte. Sie war ja nun kein junges Mädchen mehr und schleppte nun fast vierzig Jahre die schweren Blumen in großen Bündeln herum. Aber ihr Beruf machte ihr immer noch großen Spaß, wenn sie die duftenden, frischen Blumen aus aller Welt in ihren Armen hielt und daran roch. Sie stellte sich immer noch vor, dass am Vortag diese noch auf einem großen Blumenfeld irgendwo in Afrika oder Asien in der Sonne gestanden hatten und sie diese jetzt in ihrem Arm hielt. Ricarda behielt sich ihren kindlichen Glauben an die Feldblumen, wie sie immer zu sagen pflegte, obwohl sie wusste, dass diese meist aus den Niederlanden, Polen oder aus Afrika aus einem Gewächshaus kamen.
Ricarda Harms-Otte war trotz ihres Doppelnamens nie verheiratet gewesen. Ihre Eltern gaben ihr den Namen mit auf den Lebensweg, mit dem sie in der Schule oft gehänselt worden war, indem ihr Name einfach in ‚Ricarda die Motte’ umgetauft worden war. Zuerst hatte es sie gestört und sie hatte sich mit überlegten Gegenhandlungen mit Namensverballhornungen der Mitschüler gewehrt. Aber irgendwann war es ihr zu dumm geworden und sie hatte nichts mehr gesagt.
Um drei Uhr klingelte heute in der Früh ihr Wecker. Der Regen tropfte leise mit monotoner Regelmäßigkeit auf das Vordach und alle paar Minuten, wenn sich in der Dachrinne durch Blätteransammlungen genügend Regen den Weg frei bahnte, kamen im kurzen Stakkato dicke Tropfen hinterher. Es war so, als würden nervöse Finger auf ein Blech trommeln, um für ein zeitiges Aufstehen zu sorgen.
Der Kaffeeautomat war von ihr schon grundsätzlich seit Jahren immer am Vorabend auf zwei Uhr in der Nacht programmiert worden, damit sich das Aufstehen durch den guten Kaffeeduft lohnen sollte. Ricarda hatte einmal in einer Zeitschrift im Wartezimmer ihres Hausarztes gelesen, dass sich mehr einsame Menschen als man dachte, am Morgen den Kaffeeautomaten programmierten, um vorzutäuschen, der Partner wäre schon aufgestanden, um das Frühstück zu richten. Ricarda konnte leicht nachvollziehen, dass Einsamkeit weh tun konnte.
„Jetzt aber aus dem Bett, die Kunden wollen neue Ware! Los Ricarda, hopp, hopp!“ In dieser abgewandelten Form und in Anlehnung an ihre Mutter motivierte sie sich. Ihre Mutter hatte dabei immer sehr laut in die Hände geklatscht, damit Ricarda pünktlich zur Schule kam.
Eine dreiviertel Stunde später stand Ricarda wie ungezählte Male vor dem Blumengroßmarkt in Emden. Es wurde immer schlimmer einen Parkplatz zu finden. Sie wollte immer am liebsten direkt am Ausgang parken, damit sie den Karren voller Ware schnell einladen konnte. Der Marktleiter kam zufällig vorbei und hatte für die Kunden immer ein freundliches Wort übrig. Ricarda hatte sich schon am Abend vor den Zwanzig-Uhr-Nachrichten angewöhnt, einen Zettel für den Großmarkt zu schreiben. Sie achtete immer darauf, was die Kundschaft in der laufenden Woche nachgefragt hatte.
Ihren Karren mit der weißen Nummer dreiunddreißig schob sie in Richtung der Friedhofsgestecke, denn diese waren jetzt im November gefragt. Es war noch nicht richtig viel los im Großmarkt, aber so langsam füllte er sich mit den Händlern. Die Ware mit neuen, frischen Blumen in Kübeln und großen Verpackungen wurde durch die Gänge geschoben. Gabelstapler mit aufgetürmten Kisten und kleinen Anhängern dahinter suchten sich den Weg zu den Ständen. Ricarda war wie immer von dem Anblick im Großmarkt fasziniert und versuchte sich gerade an der Kreuzung zu den Stauden und Kleingewächsen für den Garten zu orientieren, als ein kurzes Geräusch ertönte, das hier nicht hingehörte.
Das gedämpfte Plopp, Plopp hörte niemand. Ricarda fiel nach hinten, ein Schuss traf sie direkt am Jochbein und einer unterhalb der Nase an der Oberlippe. Die Wucht der Projektile rissen ihr förmlich die Füße weg. Ihr Bestellzettel segelte langsam zu Boden, wo sich Ricardas Leiche schon befand, der Kopf voller Blut. Ihre Beine und Arme waren bizarr verrenkt, ein Bein lag völlig unter ihrem Körper verdreht. Der nette Marktleiter von eben war der erste, der den Vorfall bemerkte und sein Funkgerät aus der Tasche zog, während er sich zu Ricarda hinunter bückte.
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