Toll wird es werden, entschied Ricarda. Und die Stimme in ihrem Inneren, die sonst immer zweifelte, kuschte und gab ausnahmsweise Ruhe.
Die Türen ihres Kleiderschranks standen weit offen. T-Shirts. Tops. Fleece-Pullis. Shorts. Jeans. Rein damit in den Koffer. Wieso hatte sie eigentlich so verdammt viele schwarze Sachen? Die würden die Sonne aufsaugen, Schwitzgarantie. Außerdem passte es nicht zu dieser Reise, etwas in ihr sträubte sich dagegen. Hatte sie nicht auch irgendwo ein hellblaues T-Shirt und eins in orange? Ricarda wühlte sich tief in ihren Schrank hinein ... und ihre Finger stießen auf etwas Hartes, einen Lederkasten.
Obwohl sie es geschafft hatte, ihn und seinen Inhalt zeitweise völlig zu vergessen, wusste sie sofort, was sie gefunden hatte. Ihre Finger zuckten zurück, als hätte sie sich verbrannt, und ihr Magen zog sich zusammen wie eine Faust. Wieso hatte sie das Ding noch nicht weggeschmissen? Besser, sie schmuggelte es in den Müll und wurde es endlich los. Nie wieder sollte es sie daran erinnern, was geschehen war, was sie getan hatte ... Weg damit, weg!
Doch gerade als sie es hervorgezogen hatte, kam ihre Mutter herein. Angeklopft hatte sie eine Sekunde vorher, viel zu kurz, um darauf zu reagieren. Ricarda stand in der Bewegung erstarrt, sprachlos vor Schreck. Der lederne Halteriemen war noch um ihre Hand geschlungen.
„Ach, dein Fernglas, das habe ich ja lange nicht mehr gesehen“, sagte ihre Mutter und lächelte. „Das nimmst du bestimmt mit, oder? Es gibt eine Menge Tiere zu beobachten in Thailand.“
„Ja“, krächzte Ricarda und legte den Lederkasten in ihren Koffer. Doch als ihre Mutter weg war, nahm sie ihn wieder heraus und stellte ihn zurück in den Schrank.
Das war also Bangkok! Auf der Straße knatterten Scharen von bunten Mopeds, Taxis, Bussen und Tuk-Tuks – motorisierten Rikschas – an Ricarda vorbei und hinterließen Qualmwolken. Das ständige Gehupe vermischte sich mit Musik aller Art, die aus Autoradios, Läden und tragbaren Anlagen drang. Ricarda rümpfte die Nase. Wenn es ausnahmsweise mal nicht nach Abgas stank, dann aus den Garküchen am Straßenrand nach heißem Öl und Fischsauce oder aus dem Rinnstein modrig. Immerhin war das Wasser, das vor einer Stunde die Straßen in Flüsse verwandelt hatte, schon wieder abgelaufen. Wahrscheinlich direkt in den Chao Praya oder die vielen kleinen Kanäle, die die Stadt durchzogen.
„Das war keine besonders tolle Planung von uns, in der Regenzeit herzukommen“, stöhnte Sofia und wischte mit einem Taschentuch an ihrem Schuh herum.
Ricarda atmete tief durch. Wie ging das nochmal mit dem positiven Denken? „Im Reiseführer stand, dass es nur einmal am Tag regnet und es dafür immerhin sechs Stunden Sonne am Tag gibt.“ Skeptisch kniff sie die Augen zusammen und musterte den Himmel. Grau sah der aus, die Luft war schwer und feucht und warm.
„Okay, es regnet vielleicht nur einmal am Tag, dann aber richtig!“ Sofia seufzte. „Wenn wir draußen gewesen wären, wären wir wahrscheinlich einfach ersoffen.“
Ricarda warf noch einmal einen kurzen Blick in ihren Reiseführer, zuckte dann die Schultern und verstaute ihn in ihrem Rucksack. „Wusstest du, dass Krung Thep , der thailändische Name von Bangkok, ´Stadt der Engel´ bedeutet? Dabei würden die Engel während der Regenzeit glatt vom Himmel gespült werden.“
„Ich glaub auch.“ Sofia lachte. „Egal. Wir lassen uns den Tag in Bangkok nicht vermiesen, bevor wir nach Chiang Mai weiterfahren. Meinst du, wir finden hier irgendwo ein Internetcafé? Ich habe meinen Eltern versprochen, dass ich mich gleich melde, wenn wir angekommen sind.“
„Meinen Eltern soll ich eine SMS schreiben.“ Ricarda tippte auf ihrem Handy herum und stellte fest, dass sie keinen Empfang bekam und außerdem der Akku leer war. „Aber ich glaube, sie bekommen auch eine Mail, ist eh besser, da kann man mehr reinschreiben.“
Internetcafés gab es überall hier in Bangkok. Nachdem Sofia und Ricarda ihre Mails abgeschickt hatten, drängten sie sich unternehmungslustig durch das Touristengewimmel in der Khao San Road.
„Komm, wir schauen uns mal an den Straßenständen um“, schlug Sofia vor. „Brauchst du nicht zufällig eine unechte Rolex?“
Auch gefälschte Ausweise gab es an den vielen Ständen zu kaufen. Ricarda sah sogar Personalausweise aus Deutschland. Nein, so was brauchte sie nicht, und zum Glück gab es auch Dinge, die sie mehr interessierten, zum Beispiel CDs und DVDs, Schmuck, bunte Tücher und Flip-Flops. Alles enorm billig, ein T-Shirt kostete umgerechnet nur zwei Euro.
Allmählich besserte sich Ricardas Stimmung. Wie schön, dass jeder ihr zulächelte. Die Menschen schienen hier viel freundlicher zu sein, nicht so verkniffen wie in Deutschland. Und es gefiel Ricarda auch, dass die Thais Buddhisten waren. Es war ein Glaube, der etwas tief in ihr zum Klingen brachte, weil er Gewalt ablehnte und für Toleranz und Weisheit stand.
„Schade, ausgerechnet eine Buddha-Figur sehe ich nirgendwo – so eine hätte ich gerne gehabt“, meinte Ricarda.
„Frag doch einfach!“
Ricarda ging lieber weiter, so wichtig war es schließlich auch nicht. Aber Sofia hatte die Sache schon in die Hand genommen; mit einem strahlenden Lächeln wandte sie sich an einen der Verkäufer. „Do you have a Buddha statue?“
„I´m very sorry“, sagte der junge Mann mit einem entschuldigenden Lächeln. „No Buddha.“
„Why?“ Sofia ließ nicht locker.
„No Buddha for Farang . Foreigners. They take Buddha home, maybe not respect him, maybe treat him bad.“
Ach so war das. Nein, sie hätte die Statue bestimmt nicht schlecht behandelt, aber es war verständlich, dass die Thais dieses Risiko mit einem so heiligen Gegenstand nicht eingehen wollten. Schließlich wurden die meisten Reiseandenken bald vergessen und staubten irgendwo ein, landeten vielleicht sogar im Keller oder auf dem Flohmarkt.
Ricarda beschloss, zum Abschied mal den traditionellen Wai auszuprobieren, von dem sie im Reiseführer gelesen hatte. Sie legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich leicht. „Danke für die Auskunft!“
Jetzt wirkte das Lächeln des Verkäufers überrascht, er erwiderte den Wai und sah ihnen hinterher, als sie weiterschlenderten. Bedeutete das, dass sie es richtig gemacht hatte oder dass die Verbeugung übertrieben tief gewesen war?
„Was meinst du, wollen wir uns noch den Königspalast anschauen?“, meinte Sofia. „Ich glaube, dann sollten wir uns eins dieser Tuk-Tuks schnappen, zu Fuß ist es zu weit.“
„Gute Idee“, antwortete Ricarda, ihre rechte Sandale war nämlich gerade dabei, ihren kleinen Zeh wundzuschubbern. Er hatte schon die Farbe einer reifen Kirsche.
Sofia einigte sich mit dem Tuk-Tuk -Fahrer auf einen Preis von zweihundert Baht, dann kletterten sie in den offenen Fahrgastraum und klammerten sich an einer Metallstange fest, damit sie während der rasanten Fahrt nicht hin- und hergeworfen wurden oder einfach hinten aus der dreirädrigen Höllenmaschine herausfielen. Sofias große silberne Ohrringe pendelten wild.
„Wieso habe ich gerade das Gefühl, dass wir beim Preis übers Ohr gehauen wurden?“, überlegte Sofia; sie musste fast schreien, damit Ricarda sie über den Verkehrslärm verstand.
„Wahrscheinlich, weil es so ist“, brüllte Ricarda zurück. „Aber es sind ja nur drei Euro, egal.“ Der Fahrtwind wehte ihr die langen dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht, was ganz praktisch war, weil sie dadurch mehr sah. Sie hatte sich vor ein paar Wochen einen neuen Haarschnitt zugelegt, in einer weichen Schwinge fiel ihr der Pony über die Stirn. Seither musste sie sich das Haar ständig aus den Augen streichen. Das nervte ein bisschen, wirkte aber hoffentlich elegant.
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