Tatsächlich schienen bei genauerem Hinsehen einige Teile des Anbaus ausgebessert worden zu sein. Hinter dem Gebäude im Wald am Fuß des Hügels nahm ich noch weitere von Gestrüpp überwucherte Bauten wahr.
"Aber das ist eine Ruine."
"Die Akademie ist ein durch Strukturmittel der japanischen Zentralregierung gefördertes Projekt zur Wiederbelebung der Wirtschaft in Rumoi. 'The Japanese H-Manga Academy (of Rumoi)' ist die Ausbildungsstätte in Japan mit dem größten Ausbauvolumen, das heißt dem größten ausbaufähigen Volumen. Der gesamte Komplex umfasst hier mehr als 20.000 Quadratmeter Fläche. Die Studierenden kommen aus Europa und unterschiedlichen Regionen Japans, inklusive Tokio. Das steht alles auf der Webseite."
"Wie viele Studierende hat die Akademie?
"Sieben."
"Und wie viele kommen aus Europa?"
"Du, und dann haben wir noch einen Studenten, der aus Tokio kommt."
"Wie viele Lehrende gibt es?"
"Eine, das ganze Projekt wurde von der Regionalregierung nur durchgeführt, um die Strukturmittel zu bekommen."
"Wieso studierst du hier?"
"Ich habe ein Stipendium bekommen. Außer dir und Akiko Miyamoto haben alle ein Stipendium. Und für Aki spielt Geld glaube ich, keine große Rolle. Aber komm jetzt, ich zeige dir dein Zimmer."
Im Schatten an einem Holztisch vor dem Gebäude saß auf einer Bank eine Frau um die 40. Ihr Kopf war auf den Tisch gesunken, ihre kastanienbraunen Haare waren in Unordnung, einen Augenblick fragte ich mich, ob die Haare gefärbt waren, konnte das aber nicht erkennen. Ihr streng geschnittenes Kleid wirkte leicht derangiert. Vor der Frau stand eine noch etwa zu einem Viertel volle Flasche Sake, hochprozentiger Alkohol, 3und ein Glas. Nishizawa sah meinen fragenden Blick.
"Das ist unsere Lehrerin Fumiko Furuhashi. Lass sie einfach dort sitzen. Sie wird erst morgen wieder ansprechbar sein. Sie ist als Zeichnerin technisch wirklich gut, hat aber nie wirklich den Durchbruch als Mangaka 4geschafft."
Der Anbau aus Holz hinter dem Haus wirkte im Abendlicht fast wie aus einer romantischen Novelle. Die Fenster spiegelten das Licht der untergehenden Sonne, die Wände wurden von Grün überwuchert. Doch gerade hatte ich ein wichtigeres Problem.
"Entschuldigung, wo sind die Toiletten?"
"Das Plumpsklo ist hinten am Waldrand, du musst immer etwas Kalk nachstreuen, wenn du es benutzt hast. Frisches Wasser bekommst du neben dem Anbau an der Pumpe. Was ist eigentlich mit dem Apfel? Willst du Wilhelm Tell spielen?"
Nishizawa interessierte sich scheinbar für europäische Literatur. Den Apfel hatte ich die ganze Zeit in der Hand gehalten und doch völlig vergessen.
"Ein Mitreisende im Bus hat ihn mir gegeben. Sie hat ebenfalls Haiku gedichtet. Ihr Name war Itsuko Yasumi."
"Oh, Itsu studiert auch hier, sie wohnt aber im Ort bei ihren Eltern. Du wirst sie morgen wiedersehen."
Ich steckte den Apfel weg und nutzte das erste Mal in meinem Leben ein Plumpsklo. Der Riegel an der Tür klemmte etwas. Draußen waren die Vögel zu hören. Nun begriff ich, wieso Itsuko davon ausgegangen war, dass wir uns wiedersehen würden, und wieso sie mir wie selbstverständlich Haiku vorgetragen hatte. Ich hatte ihr ja erzählt, dass ich hier studieren wollte. Das Konzept von Haiku-Manga, die in der Regel ein Haiku in einen Manga mit wenigen Bilder umsetzten, war mir aus meinen Recherchen zu japanischen Manga bekannt, mein Arbeitgeber hatte sich dafür aber nie interessiert. Ich war mir sicher, dass er das 'H' in der gleichen Weise, wie ich, interpretiert hatte.
Als ich zurückkam war Nishizawa bereits hinein-gegangen. Sie stand in einem Raum unten rechts, der wohl als Küche diente.
"Ich gieße Tee auf, willst du auch einen Becher?"
"Danke."
Der Tee war heiß.
"Dein Zimmer ist oben."
Das Zimmer war einfach eingerichtet, ein Bett, eine kleine Kommode, ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein Schrank und ein kleiner Tisch. Ich legte mich kurz auf das Bett. Was sollte ich tun? Machte es Sinn, hierzu bleiben?
Als ich wieder aufstand, war es bereits fast dunkel. In der Küche saß noch immer nur Nishizawa und aß.
"Wenn du auch etwas essen möchtest, im Schrank ist eine große Auswahl an Instant-Nudeln unterschiedlicher Geschmacksrichtungen und dort ist ein Wasserkocher. Die Nudeln sind im Preis der Unterbringung inbegriffen."
Das 'hochwertige abwechslungsreiche Essen' erinnerte ich mich.
"Nein, zuerst würde ich gerne telefonieren, ich habe aber nirgends Empfang. Gibt es hier ein Festnetz?"
"Nein, aber oben auf dem alten Turm des Hauptgebäudes hast du einwandfreien Empfang. Die Türen stehen alle offen."
Im Hauptgebäude war es so dunkel, dass ich zuerst gar nichts sah. Die Lichtfunktion meines Smartphones funktionierte aus irgendeinem Grund bereits seit Wochen nicht mehr. Zum Glück gewöhnten sich meine Augen schnell an Dunkelheit. Nach kurzer Zeit konnte ich alles Wesentliche erkennen. Hier war alles so baufällig, dass ich nur hoffen konnte, dass die Treppe nicht unter mir zusammenfallen würde. Trotz der Dunkelheit fand ich den Zugang zum Turm im ersten Stock, ohne mich zu verirren. Nur die Geräusche, die aus dem Dunkel der Zimmerfluchten tönten, krochen mir kalt den Rücken hinunter. In den dunklen Fluren hallten meine Schritte wider und von irgendwoher mischte sich unter diesen Ton unregelmäßig ein zweites, ähnliches Geräusch, als wäre ich nicht allein. Auf einmal erklang aus dem Nichts eine Stimme, hohl klingend in dem hohen Raum.
"Der Tod geht dort
im wallenden Gewand,
grüß ihn von mir."
Ein schwarzer Schatten näherte sich mir. Nirgendwohin konnte ich ausweichen, kein Ausweg blieb. Mein Herzschlag schien alles zu übertönen.
"Ich war mir nicht sicher, ob du den Aufgang zum Turm finden würdest, deshalb bin ich dir gefolgt. Aber du musst ja nur noch die Treppe hoch. Ich gehe dann wieder zurück."
Erst jetzt erkannte ich das Gesicht von Kita Nishizawa. Gleich darauf war ich wieder im Dunkeln, allein mit den Geräuschen des Windes. War es der Wind? Nishizawas Gesicht war ausdruckslos gewesen, hatte sie das absichtlich gemacht?
Ich beeilte mich, die Treppe hinaufzusteigen. Endlich hatte ich das Turmzimmer erreicht, diesmal bekam ich sofort ein Signal.
Im Dunkel der Nacht war alles in Finsternis versunken, eine Welt der schwarzen Schatten. Draußen das Schwarz einer mondlosen Nacht.
Ich war mir nicht sicher, ob wir Neumond hatten oder der Mond nur noch nicht aufgegangen war. Zum Glück nahm mein Arbeitgeber das Gespräch gleich an.
"Hallo"
"Hallo Yukiko, hast du schon erste Kontakte geknüpft?"
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier bleibe."
"Dass musst natürlich du entscheiden. Aber du weißt ja, dass der Verlag dann laut Vertrag leider die vollen Flugkosten und die bis dahin angefallenen Gebühren für den Ausbildungskurs inklusive der Unterbringungskosten von dir zurückverlangen müsste. Außerdem ist laut Vertrag bei Nichterfüllung eine Ausfallzahlung von 50.000,- Euro zu zahlen. Dies gilt gegenseitig, der Verlag unterliegt denselben Verpflichtungen wie du. Wenn wir den Vertrag brechen würden, müssten auch wir dir 50.000,- Euro bezahlen."
"Wie bitte?"
"Du hast das unterschrieben, das Formular, das ich dir mit der Bitte um Unterschrift zugeschickt hatte. Ich kann da leider nichts machen."
"Was?"
"Hast du schon deine Lehrerin kennengelernt? Fumiko Furuhashi ist unter ihrem Pseudonym XYXY-Sensei 5sogar in Europa ein Begriff auf Grund ihrer Hentai-Yaoi-Manga 6. Du weißt, BL Boys-Love-Manga, Liebesgeschichten zwischen Jungen mit expliziten Darstellungen. Die Mädchen lieben sie. Als ihre Spezialität gilt die vielfältige Verwendung von Stofftieren. Ich denke, das ist auch für Deutschland ein vielversprechendes Marktsegment."
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