"Ich glaube, du hast falsche Vorstellungen über Deutschland."
"Ich wollte wirklich nicht deine Heimat schlecht machen."
Ich kam nicht dazu, noch etwas zu erwidern, da meine Nachbarin kurz darauf einschlief. Ihre Schulter berührte mich leicht. Und dabei hatte ich gelernt, das Japanerinnen körperscheu sind. Ich versuchte, sie nicht zu wecken. Der Bus fuhr inzwischen, am Fenster zogen Äcker, Weiden und bewaldete Hänge vorbei, ab und zu überquerten wir eine Brücke oder fuhren durch einen Tunnel. Auf einmal hörte ich neben mir eine Stimme:
"Schwarzer Räder
Schweiß auf rohem Asphalt,
des Todes Spur."
Meine Nachbarin war aufgewacht. Ihr Blick wirkte, als würde sie eine Reaktion erwarten, doch da von mir keine Erwiderung kam, streckte sie mir ihre Hand entgegen.
"Ich heiße Itsuko Yasumi."
"Yukiko Müller."
"Müller?"
Sie ließ die Laute über ihre Zunge rollen.
"Das klingt ungewöhnlich."
Wieder ließ sie mir nicht die Zeit für eine Antwort, bevor sie fortfuhr.
"Ich versuche, surrealistische Haiku zu dichten. Wie fandest du die Zeilen?"
"Oh, ..." Ich erinnerte mich an das, was ich über Haiku gelesen hatte: Haiku sind eine japanische Kurzgedichtform, die traditionell aus 3 Zeilen zu 5 / 7 / 5 Lauteinheiten besteht, die sich nicht reimen und die den Buchstaben des Hiragana-Alphabets entsprechen. Haiku nutzen in ihrer traditionellen Form bestimmte Begriffe mit Jahreszeitenbezug, beschränken sich auf bestimmte Themengebiete, vor allem Natur, und fassen diese konkret, teils mit symbolischen Bezügen zur Religion oder zu Emotionen, überlassen aber gleichzeitig die Vervollständigung des Sinns den Lesenden.
Da Silben teils aus mehreren Lauteinheiten bestehen, wird im Deutschen für Haiku teils ein Schema aus 3 Zeilen zu 4 / 6 / 4 Silben zu Grunde gelegt. Manchmal wird aber auch ein 5 / 7 / 5 Silbenschema verwendet.
Das Haiku von Itsuko war zumindest ungewöhnlich und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Zum Glück wartete sie meine Antwort jedoch auch nicht ab, bevor sie weiter sprach.
"Hast du etwas gegen moderne Haiku? Meinst du, die traditionelle Form muss gewahrt werden?"
"Ich weiß nicht."
Ihr Blick wirkte auf einmal unsicher.
"Du kommst aus Ostdeutschland. Bist du Faschistin?"
"Nein."
Sie atmete auf.
"Im japanischen Faschismus wurden in den 1940er Jahren Haiku-Dichter der Schule moderner Haiku verhaftet und teils bis zum Tod gefoltert, weil sie von der traditionellen Form abgewichen sind. Sie haben zum Beispiel auf jahreszeitliche Begriffe verzichtet und individuelle Gefühle thematisiert. 2Hana hat dazu ein Haiku geschrieben:
1940
Februareis,
die Tokkô weist Dichtern
den Weg zurück.
Die Tokkô, die tokubetsu kôtô keisatsu, das japanische Gegenstück zur GeStaPo, begann am 14. Februar 1940 mit der Verhaftung von Haiku-Dichtern der Neuen Haiku-Bewegung, der shinkô haiku undô, und zwang sie unter Folter zur Selbstkritik und zum Schreiben traditioneller Haiku. Unterstützt wurde die Tokkô dabei von Takahama Kyoshi, dem zu der Zeit wichtigsten Dichter traditioneller Haiku. Hana hat in diesem Haiku deshalb einen jahreszeitlichen Terminus aufgenommen und ein Naturthema gewählt."
"Ah, ..." Wer war Hana?
"Willst du einen Apfel?"
"Danke."
Beide wussten wir einen Augenblick lang nicht, was wir sagen sollten. Dank der Äpfel konnten wir unauffällig schweigen. Draußen hatte sich die Landschaft kaum verändert, nur ab und zu kamen wir durch kleinere Ortschaften und immer wieder war das Meer zu sehen. Itsuko schlief wieder ein. Auch ich lehnte den Kopf an und schloss die Augen.
Ein Zupfen an meiner Kleidung ließ mich hoch-schrecken. Itsuko beugte sich zu mir herüber.
"Gewürm kriecht mir
aus den Augen, der Schlaf
zieht mich hinab."
Ich schüttelte mich, um wach zu werden.
"Ist das auch ein surrealistisches Haiku?"
Sie schaute mich unsicher an.
"Natürlich, aber ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Falls du so etwas noch nie gelesen hast, kann ich dir einen Band mit surrealistischen Gedichten leihen. In Ostdeutschland ist das vielleicht nicht so bekannt."
Ich wollte gerade versuchen, Itsukos Blick auf Ostdeutschland zu korrigieren, als sie auf einmal aufblickte.
"Du musst raus, das ist deine Haltestelle. Ich fahre noch eine Station weiter. Bis bald." Sie drängte mich zur Tür.
Gleich darauf stand ich draußen. Ich kam nur noch dazu, ihr ein kurzes "Danke!" zuzurufen, dann setzte sich der Bus wieder in Bewegung.
Itsuko winkte noch.
"Wir sehen uns."
Wieso war sie sich so sicher, dass wir uns wiedersehen würden? Wir hatten nicht einmal Telefonnummern ausgetauscht. Bald war der Bus in einem Tunnel verschwunden. Ich sah mich um, ich stand im Nirgendwo. Weit und breit war kein Gebäude zu sehen, kein Auto, kein Mensch, nur Wald und Buschwerk. Und mein Smartphone hat keinen Empfang.
Aber der Busfahrer hatte die Haltestelle sogar angesagt: "The Japanese H-Manga Academy. Bitte Vorsicht beim Ausstieg."
Itsuko hatte mir zum Abschied noch einen Apfel in die Hand gedrückt. Den Apfel in der einen, den Trolley mit meinem Reisegepäck mit der anderen Hand fest-haltend, stand ich am Straßenrand und starrte auf die Bäume.
Ein kühler Windhauch strich über die Straße. Leichter Nebel bildete sich über über dem Gras am Waldrand. Die sinkende Sonne stand dicht über den Wipfeln der Bäume.
Es dauerte eine Weile, bis ich eine matschige Stelle, die zwischen zwei Bäumen hindurchführte, als Pfad erkannte. Sonst war nichts zu sehen. Dies war der einzige Weg, also entschied ich mich, ihn auszuprobieren. Nach wenigen Metern waren meine Turnschuhe durchnässt. Zum Glück hatte ich mich für die Fahrt für praktische Kleidung entschieden, Hosen und Pullover. Der Wald wurde immer dichter, die Straße war durch den Nebel zwischen den Bäumen bald nicht mehr zu sehen.
"Das Herz, begraben
unter dunklen Tannen,
schreit vor Schmerzen."
Eine fast monotone Frauenstimme, als käme sie aus den Abgründen der Zeit selbst. Irgendetwas berührte meine Schulter. Hinter mir stand eine Frau mit mittellangen schwarzen Haaren, etwa so groß wie ich und dunkel gekleidet, ein schwarzer Trenchcoat über den dunklen Hosen, schwarze, feste Schuhe, nur die Bluse war weiß. Sie schien wie ich Anfang 20 zu sein.
"Hallo, ich bin Kita Nishizawa, du musst Yukiko Müller sein - die Neue."
"Hallo."
Mehr brachte meine Kehle nicht hervor. Nishizawa schaute mich an, als wäre ich ein interessantes biologisches Fundstück, das sie gerade im Wald entdeckt hatte.
"Ich soll dir den Weg zeigen."
Immer tiefer ging es in den Wald hinein, der Pfad war nun kaum noch zu erkennen.
"Kein Sehnen mehr,
am Ende des Weges
nur ein Abgrund."
Nishizawa trug auch dieses Haiku vollständig ausdruckslos vor, dann schwieg sie. Die Stille wurde im Dunkel des Waldes immer drückender. Ich räusperte mich.
"Du bist schon die Zweite, die ich heute getroffen habe, die Haiku zitiert. Ist das hier üblich?"
"Das war kein Zitat. Und auch du bist doch deshalb hier."
"Was meinst du damit?"
"Die H-Manga Akademie, du hast dich doch eingeschrieben, die Haiku-Manga Akademie." Als sie meine Überraschung bemerkte, unterbrach sie sich kurz. Ihr Blick wurde kalt, er schien unter meine Kleidung zu dringen. "Oder was dachtest du, wofür das H in H-Manga Akademie steht?"
"Ich, ich dachte .... mein Verleger hat die Akademie ausgesucht."
Sie zuckte nur mit den Schultern.
"Wir sind da."
Auf einer Lichtung, die halb zugewachsen war, stand ein verfallenes großes Gebäude mit Anbauten. Nishizawa deutete auf einen Anbau an der Vorderseite des Gebäudes.
"Der Unterricht findet im Anbau links statt, dort, wo die Fenster ersetzt wurden. Das Wohnheim ist in einem Anbau hinter dem Gebäude."
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