Unten saß Sergej immer noch in der Küche. Allerdings nicht mehr so gelangweilt wie zuvor, denn er spürte es mehr und mehr: Da war etwas anwesend, was sogar ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Ihm, dem knallharten Profikiller, machte der Raum zu schaffen. Er dachte: „Was los Raum, willst du mich sagen was, dann sag, sprich, sei ein Mann!“ Aber der Raum war still. Von ihm unbemerkt drückte sich die Decke etwas hernieder. Erst als Sergej sah, dass der Schatten des Deckenleuchters sich veränderte, blickte er auf. „Was ist das für ein Hölle?“, fragte er sich. Er zog ein Messer aus der kleinen Ledertasche an seinem Gürtel und bedrohte damit die Wand. Ihm war nicht wohl bei dem Ganzen und so ging er schnellen Schrittes aus dem Raum heraus. Beim Zurückblicken in den Raum sah alles ganz normal aus. „Hab ich mir da jetzt Bilder gesehen“, fragte er sich. „Komisch, was ist los mit diese Haus?“ Kurz darauf kam er oben im Wohnzimmer an und schaute verstört zu seiner Frau. „Ah, Sergej, setz dich mal her“, sagte sie zu ihrem Mann. Debora fügte hinzu „Ich hab das Gefühl, hier geht etwas vor in diesem Haus, was nicht koscher ist.“ Sergej nickte nur. Das war für ihn sehr ungewöhnlich. Normalerweise widersprach er seiner Frau immer, wenn sie so etwas äußerte, aber diesmal nicht. Elise sah ihren Vater fast schon besorgt an und fragte: „Dad, was ist los, du siehst so blass aus?“ Doch Sergej ging nicht weiter darauf ein. „Ich bin müde, will schlafen jetzt“, sagte er schließlich. Kaum ausgesprochen ging er auch schon wieder aus dem Raum heraus und lief den Flur hinunter zum hinteren Schlafzimmer. Hier knipste er das Licht an und war angenehm überrascht, wie groß der Raum war. Schon beim Eintritt in diesen spürte er die wohlige Wärme des Kamins, der gleich vorne in die Wand eingelassen war. Es brannten genug Scheite, sodass das Feuer über Nacht den Raum warmhalten würde. Er zog sich aus, legte seinen Pyjama an und kroch sogleich unter die Decke. Das Laken war angewärmt. Der Butler des Hauses, ein Herr Kimmens, hatte warme Steine ins Bett gelegt, damit die Herrschaften nicht frieren, wenn sie ins Bett gingen.
Kimmens war ein Butler vom alten Schlag. Er trug stets einen Frack, verbeugte sich zur Begrüßung und redete die Herrschaften immer mit Sir und Lady an, die Kinder eingeschlossen. Er kümmerte sich um das Essen, das Abräumen, die Post, den Garten, eigentlich um alles. Dazu war er verschlossen wie eine Kirchentruhe. Ja, sie hatten schon großes Glück mit ihm. Mittlerweile zählte er bestimmt schon an die 60 Jahre, wovon weit mehr als 40 Dienstjahre sein mussten. Er war wie eine stille Fee im Hintergrund, immer zur Stelle, wenn er gebraucht wurde und unsichtbar, wenn es die Etikette verlangte.
Sergej lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Im Geiste ging er den nächsten Auftrag durch.
Name: Frank Tabbert
Geschlecht: männlich
Alter: 43 Jahre
Beruf: Sicherheitsmann bei der First National Bank
Familienstand: verheiratet, zwei Kinder (Peter und Justus)
Charakter: Gewohnheitsmensch
Marotten: Blickt ständig auf die Uhr; pingelig, was Termine anging.
Umsetzung des Auftrags:
Tatzeit: 05:00 p.m.
Datum: 2014:03:16
Ziel: Frank Tabbert mit einem Schuss töten (Kopfschuss).
Tatort: direkt vor dem Betreten der Bank
Ausrüstung:
Little Susie (sein Spezialgewehr mit Zielfernrohr/Infrarot und Laserpointer)
Munition: 1 Patrone Hohlmantelgeschoss
Kaliber: 11 mm
Er hatte nie mehr als eine Patrone dabei. Noch nie in seiner Karriere als Profikiller hatte er jemals danebengeschossen. Bekannt war er unter dem Decknamen „Headshot“.
Sergej konnte nicht schlafen und so suchte er mit den Augen den Raum nach einem Fernseher ab, aber Fehlanzeige. Auf dem Nachttisch lag ein Buch. Wie in vielen Hotels Standard, war es auch hier eine Bibel. „Für diesen Quatsch bin ich nicht Sergej geworden. Ich bin Knipser von Beruf. Und ich das gut kann“, dachte er so bei sich. Noch während ihm das durch den Kopf ging, hatte er wieder dieses Gefühl, dass er beobachtet werden würde. Er schaute von Wand zu Wand und schließlich ins Feuer. Alles wirkte normal. Zu seiner Rechten hing ein goldgerahmter Spiegel an der Wand. Darin konnte er eine Ecke des gegenüberstehenden Schrankes sehen. Gerade dieser Schrank an der Wand zu seiner Linken war es, welcher ihm Unbehagen verursachte. Er wirkte so klobig und grobschlächtig. Fast so, als wäre er aus einem Stück gefertigt worden. Sergej winkte schließlich ab, fuhr mit ausgestrecktem Arm hinter sich an die Wand und drückte den Lichtschalter. Augenblicklich wurde der Raum von Dunkelheit geflutet. Einzig das knisternde Kaminfeuer in ungefähr 20 Fuß Entfernung zum Bett tauchte den Raum noch in Lichtfetzen.
Timothy drehte und wälzte sich in der Nacht herum. Obwohl er den Abschluss seines Lebens geschafft hatte mit der Vermietung des Loraine-Anwesens, fühlte er sich nicht wohl. Die Träume erfreuten ihn nicht, im Gegenteil, sie zerrten und rissen an ihm herum. Er musste förmlich strampeln, um der einen oder anderen gefährlichen Situation zu entgehen. Kurz darauf tastete er mit der linken Hand an dem kleinen Nachttisch herum auf der Suche nach dem Lämpchen, was dort stand, aber er fand nichts. Schließlich schob er sich nach vorne zum Bettende, rutschte heraus unter der Bettdecke und stand auf. Im Dunkeln durchschritt er den Raum auf der Suche nach einer Lichtquelle. Da, ein trüber Lichtschein fiel durch das Schlüsselloch. Ihm war zuvor gar nicht aufgefallen, wie einfach die Schlösser hier doch sind. Durch diesen Lichtschein erkannte er endlich, dass er zur falschen Seite des Nachtschränkchens gegriffen hatte.
Ein, zwei, Minuten später drückte er das Licht an und schaute auf die Uhr: 03:43 a. m. „Mein Gott, was für eine grässliche Zeit“, entfuhr es ihm. „Warum nur bin ich wach, ich versteh das gar nicht. Sonst bin ich doch ein Durchschläfer, warum denn heute nicht?“ Der Umstand ließ ihm keine Ruhe. Irgendetwas passte nicht bei dem Vertrag mit dem Russen. Kurz darauf zog er sich an, streifte seinen Mantel über und ging zur Tür, die Treppe hinunter und hinein ins Auto. Er startete den Motor, machte das Licht an und schon fuhr er los. Das Wetter war ungemütlich. Es regnete in Strömen und der Wind heulte. Timothy lenkte das Auto in Richtung Herrenhaus. Die Lichtkegel fraßen sich durch die Dunkelheit und gaben nur sehr wenig Straße dem Sichtfeld seines Blickes frei. Der Wind nahm zu, es wurde stürmisch. Meile um Meile kam er dem Haus näher. Er spürte, wie sich ein Schatten seiner bemächtigte.
Endlich stand er vor dem Tor. Das Haus war von der Straße aus nicht zu erkennen. An der Auffahrt selbst leuchteten ein paar Laternen. Timothy stieg aus, öffnete das Tor, fuhr hindurch und schloss es danach wieder. Langsam glitt sein Wagen die lange Auffahrt zum Haus dahin. Als er es sah, gefror ihm der Blick. Er stoppte seinen Wagen. „Was zur Hölle ist das da oben oberhalb des letzten Fensters?“, fragte er sich. Er konnte es eigentlich genau erkennen, aber sein Verstand spielte ihm einen Streich und so war es verschwommen. Er kniff das linke Auge zu und schaute noch einmal nach oben. Und tatsächlich, da ganz oben auf dem Giebel des Hauses stand eine Frau in einem nassen weißen Kleid. „Um Himmelswillen, Frau Debora!“, rief er hoch. „So tun Sie sich doch nichts an, wir können doch über alles reden!“ Schnell rannte er zum Eingang, sprang herein und durchquerte in Windeseile die untere Etage, spurtete die Treppe hinauf und blieb erst mal stehen. Er prustete, denn der Jüngste war er nicht mehr. Dann rannte er weiter, die nächste Treppe hinauf, den Gang hinunter bis zum Ende, entklappte dort die alte Dachbodentreppe und kletterte wilden Schrittes hinauf. Hier oben herrschte völlige Dunkelheit. Timothy griff in seine Manteltasche und holte sein altes Benzinfeuerzeug hervor, ratschte einmal kurz und schon sah er, wo er war: nicht dort, wo er eigentlich hätte sein müssen. Er stand nicht auf dem Dachboden. „Wie ist das möglich?“, murmelte er in seinen Bart. „Aber ich bin doch definitiv die Leiter zum Boden hochgestiegen. Das kann doch gar nicht sein! Hab ich Halluzinationen? Wie bin ich denn in den Keller gekommen?“ Tatsächlich stand er nämlich im alten Kohlenkeller. In der Ecke lagen aufgetürmt wohl an die 50 Sack Kohlen. Er spürte, wie die Kälte ihn erfasste, ganz so, als würden drei, vier Hände unter seine Kleider greifen und nach der Wärme seines Körpers suchen. Ihn schauderte. Er wollte nur noch raus, weg aus dieser Situation. DA HÖRTE ER ES. Ein tiefes Schnaufen kam von irgendwo hinter ihm. Er wagte es nicht, sich umzudrehen und so blieb er wie angewurzelt stehen. Das Schnaufen kam näher und es schleifte etwas über den Boden, fast so, als würde es einen Klumpfuß haben. Timothy riss die Augen auf. „Bei drei drehst du dich um, egal was da ist, du willst es sehen. Sei stark, los komm“, flüsterte er zu sich selbst. Dann zählte er langsam: „Eins, zwei, drei“ – und zack, drehte er sich um. Aber da war nichts. Nur Dunkelheit, Kälte und die Einsamkeit, die ihn fesselte wie ein dickes Seil. Im Wohnzimmer des Hauses kauerten derweil Debora und Elise dicht aneinander. Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht und das spürten sie beide. Trotz mehrerer Leuchter, des Kaminfeuers und einer kleinen Öllampe war der Raum nahezu dunkel. Beide fühlten sich eingeengt. Die Wände veränderten sich, die Luft wurde stickig, und da geschah es: Eine Stimme ertönte und sprach ganz tief:
Читать дальше