«Was ist das für ein Blödsinn, Papa, den du da von dir gibst! Du lebst nicht in der Steinzeit und leidest nicht an Alzheimer. Valentin ist ein sehr guter Freund, nichts mehr und nichts weniger.» - «Und in dich verliebt. Weshalb deine Bemerkung die Aussage impliziert, dass er kein guter Freund mehr wäre, wenn es auf deiner Seite ebenso funken würde.» - Da hatte nun ihr Vater einen jener Rücksichtslosigkeitsanfälle, die alle, die ihn näher kannten, befremdeten. Monologisierend fuhr er fort: «Das war quasi eine Standarderöffnung in der Erörterung eines der schwierigsten Themen der Menschheitsgeschichte, welches da heisst: "Über die wahre Beziehung von Sex und Liebe!"» - Ilena suchte Valentin, der sich weit fort wünschte, zu beschwichtigen: «Bitte entschuldige, das geht vorüber.» Und zu Hieronymus: «Du kommst jetzt auf den Teppich und hörst mit diesem Theater sofort auf! Niemand hört auf dein selbstgefälliges Wortgeklingel.» - «Aber aber, was heisst hier niemand! Existiere ich in deinen Augen denn gar nicht mehr!» Es war zwecklos. Dieser Musikclown beharrte weiterhin darauf, einen sehr schlechten Eindruck zu machen.
Um meinen Menschen vor einem Vorurteil des Lesers zu schützen, welches allzu leicht an dieser Stelle entstehen könnte, will ich seine seelische Lage zu erläutern versuchen: In dem Moment, wo Hieronymus Valentin das erste Mal wahrnimmt, wie er da zwei Schritte hinter Ilena stehend wartet und dabei seine Freundin in ihrer Widerrede gegen ihren Vater innerlich unterstützt, da erfasst Hieronymus in einem Augenblick die ungeklärte Wirrnis der instinktiven Beweggründe, die ihre Freundschaft bestimmt. Er sieht die zukünftigen Schmerzen Valentins bereits vor sich, die ihm aus dem Verzicht auf eine leidenschaftliche Erwiderung seiner insgeheim brennenden Liebe für Ilena erstehen, mitsamt dem langwierigen Gezerre entgegengesetzt veranlagter Triebe. Er erkennt auf einen Schlag, dass sie zusammengehören und sich dennoch nicht leicht würden ohne Schmerzen lieben können. Seine Intuition stützt sich dabei auf die ihm eigene Erfahrung in Herzensdingen.
Er fühlt sich den beiden unmittelbar verbunden und gesteht sich gleichzeitig ein, dass ihn das Ganze in keiner Weise etwas angehe. Doch wie er jeweils die Grenze zwischen dem einen und dem anderen zu ziehen hat, gehört für meinen Menschen zu den schwierigsten Dingen seines alltäglichen Seelenlebens. Ich will damit zu bedenken geben, dass, wenn Halbeisen gelegentlich jenen rücksichtslosen Attacken der Unverfrorenheit verfällt, diese nicht auf eine aggressiv verletzende Absicht zurückzuführen sind. Sie sind vielmehr missglückte Versuche, das Gleichgewicht zwischen Schauen und Verschweigen, zwischen Mitgefühl und Distanzwahrung, zwischen Unbefangenheit und erfahrungsgestützter Vorahnung herzustellen.
«Du fragst dich nicht einmal, warum ich hier bin», seufzte Ilena. «Was kümmert es den vornehmen Herrn Halbeisen, was für einen Eindruck er bei anderen hinterlässt! Ich habe mit deinem Freund Blinker telefoniert. Du hast bei ihm viel über das Leben der Verstorbenen raisoniert. Ein bisschen zu viel, fand er. Dass du dich auch im hellen Tageslicht im Dunkeln fühlen würdest, wenn die Verstorbenen nicht um dich wären, hättest du unter anderem verlautbart. Und dass die politischen Parteien ihr Sozialprogramm erweitern sollten, um die Verbesserung der Lebensqualität der Verstorbenen mit einzubeziehen. Blinker hast du mit deinen Andeutungen ziemlich verstört, da du dabei nicht einmal betrunken gewesen seist.
Und mich im übrigen auch, obwohl ich dich etwas besser kenne. Und jetzt ärgere ich mich darüber, die Fahrt hierher gemacht zu haben, nur um einen herum albernden Musikamateur vorzufinden. Deine Leistung am Schlagzeug war superb, alle Achtung! Das ist auf jeden Fall bühnenreif, wenn sich eine Bühne dazu finden sollte. Vielleicht sucht die Bezirksschule noch einen Beitrag für ihren bunten Abend? Oder spielt ihr den Blues wie immer ganz für euch allein? Und warum hast du die einzig verbliebene Verleihmöglichkeit für deine Filme aufgekündigt? Und machst Besuche, die du wie Abschiedsfeiern inszenierst!? Und verteilst grosszügige Geschenke. Ich fürchtete, dass du vielleicht geplant hast, dich umzubringen!? Stell dir das einmal vor! Wie absurd dieser Gedanke ist, nach dem Gastspiel, das du hier gegeben hast. Du feierst wohl gerade deinen zweiten Frühling? Oder ist es bereits der dritte?»
Wenn Ilena wütend wird, dann treibt sie jeweils ihren Vater zu höchst unerwarteten Schutzhandlungen. Denn argumentativ zurückschlagen, dies hat er ihr gegenüber noch nie getan. Überhaupt ist er zu Wutausbrüchen, die er an anderen abreagiert, unfähig. Wenn er sich ärgert, dann über sich selbst, alleine.
Hieronymus Halbeisen neigt seinen Kopf leicht gegen die linke Schulter, breitet seine Arme waagrecht aus, und bewegt sich kaum merklich in linksdrehenden Pirouetten. Dazu skandiert er: «Mitten im Leben, - vom Tode umgeben!» Ist er nun vollkommen übergeschnappt? Nach einer eingetretenen Pause, in der sich sowohl Valentin wie Ilena genau jene Frage stellen, wirbelt er auf die Wiese hinaus und beginnt Ilena, die ihm gefolgt ist, übergangslos folgendes mitzuteilen: «Du, ich habe da jemanden kennen gelernt, einen sehr interessanten Herrn. Du hast Professor Santi ja gesehen, beim Fahrstuhl vor der Filmschule. Denk dir, Santi hat Mama gut gekannt. Wir fuhren zusammen in die Schweiz zurück. Er war mit ihr in Sarajewo. Sie hat ihm nicht gesagt, dass sie verheiratet sei. Santi weiss, wie sie ums Leben kam. Sie war für ihre Kriegswitwenreportage unterwegs. Es geschah in jener Allee der Heckenschützen, vor dem Holiday Inn. Von hinten in den Rücken. Ins Herz. - Sie war sofort tot.»
Ilena schaut ihren Vater gefasst an, bevor sie sich umdreht und sich auf einen grossen warmen Kalkfelsen setzt, den Halbeisen vor einigen Jahren im Wald entdeckt und auf die Wiese hat kippen lassen. Valentin ist drinnen geblieben und hat von den Worten Halbeisens nichts mitbekommen. Er sieht sich bei den Büchern um und entdeckt ein umfangreiches Manuskript mit dem Titel "Die Erwärmung des Spiegels". Er würde gern darin zu blättern beginnen, aber da er Herrn Halbeisen als den Autoren vermutet, wendet er sich durchs Fenster nach ihm um. Dieser versteht Valentins Anliegen sofort und macht eine ermunternde Gebärde.
In den Papieren stösst Valentin auf viele Fotografien und Zeichnungen. Da ist Narziss über der Quelle zu sehen, die ihm sein Antlitz zurückwirft. Dann der griechische Held Perseus, der die Gorgone enthauptet. Darauf folgt eine längere Ausführung über eine ägyptische Kulthandlung. Ein Pharao ist sichtbar, welcher der Göttin Isis etwas wie eine Kreisscheibe darbringt.
«Du sollst dir wegen mir keine Sorgen machen, Ilena. Ich verfolge mit beschränkten Kräften ein überaus reales Ziel und ich bin dankbar, dass es mir in all den Jahren nicht abhanden gekommen ist. Na ja, in letzter Zeit war ich vielleicht etwas zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Vielleicht geht es den meisten so. Man führt ein eigenes Leben oder gar keins, stellt man sich vor, obwohl ein wirklich erfülltes Leben womöglich nur im Miterleben der anderen entsteht. Wie macht man das, ohne das eigene zu verlieren? - “Die teuersten Freunde, ermattet auf getrenntesten Hügeln“ . So hat es Hölderlin ausgedrückt. Wenn du genauer wissen willst, wie es mir geht: In den letzten Monaten hat sich vieles geändert. Meine jahrelange Suche stösst auf neue Antworten. Ein Wort eines Sufi lautet: “Nur der Suchende findet zu Gott. Aber durch Suchen hat ihn noch keiner erkannt.“ Wie, wenn ich den Sinn meines Lebens nicht mehr zu suchen bräuchte! Er hat sich umgedreht. Er hat begonnen, mich zu suchen.» - «Ich verstehe, dann ist es ja gut.» - «Du verstehst, was ich meine? Das freut mich, das konnte ich nicht erwarten!» - Ilena umarmt ihren Vater lange und fühlt sich erleichtert, dass ihr Papa im Grunde genommen doch in Ordnung ist. «Typisch für dich, du kannst es kaum glauben, wenn dich jemand versteht», flüstert sie ihm ins Ohr. Noch während der nachdrücklichen Umarmung geht ihr durch den Kopf, dass sie mit seinem Ausspruch, dass der Sinn des Lebens ihn zu suchen begonnen habe, nicht wirk-lich etwas anzufangen weiss.
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