In der letzten Nacht vor meinem Einsatz schlief ich kaum. Wälzte mich im Bett hin-und her. Was für ein Wahnsinn. Und da kamen wieder die Zweifel ob diese zwei unschuldigen jungen Leute wirklich Terroristen waren. Dabei fiel mir der Anschlag vor einem Jahr in einer amerikanischen Großstadt ein. Vielleicht hatte ich alles nur in einer Art Wachtraum erlebt. Und doch sah ich wieder glasglar vor mir wie im diffusen Licht ein einäugiger Pickup auf mich zukam. Hörte die befehlsgewohnte Stimme des Mannes der mich instruiert hatte. Ich stand auf um etwas zu trinken. Unter dem Oberteil meines Schlafanzuges war ich schweißnass. Als ich wieder in mein Bett kroch reifte in mir der Entschluß einfach nicht auf diese Party zu gehen. Mein Gedankenapparat gewährte mir daraufhin gnädige Ruhe.
Das erste was mir am nächsten Morgen einfiel waren die Worte: "DANN WIRST DU DEINEN VATER NIE
WIEDERSEHEN."
Ich sah auf die Uhr. Siebenuhrdreißig. Um vierzehn Uhr sollte die Parade starten. Heute war Sonntag. Und ich mußte meinen Beobachtungsposten mindestens zwei Stunden vorher einnehmen. Mein Magen rumorte. Außer einer Tasse Kaffee konnte ich nichts zu mir nehmen. Obwohl der Kühlschrank meiner Junggesellenbude gut gefüllt war. Sonntags ein paar eingefrorenen Brötchen in der Mikrowelle rösten das war mein Ritual. Wenn ich nur an Essen dachte rebellierte mein Körper. Ich sah aus dem Fenster. Paradewetter. Blauer Himmel. Wahrscheinlich um die Mittagzeit dreißig Grad. Der Schweiß brach mir jetzt schon aus. Also duschte ich so kalt wie möglich und zog dann meine Jeans, ein T-Shirt und bequeme Joggingschuhe an.
Die Unsicherheit nagte mir das Gehirn leer. Was wenn ich beim Ablauf des Geschehens nicht die Hilfe bekam die ich brauchte. Doch sie hatten mir abgeraten vorher zur Polizei zu gehen. Dort würde man mich unter Umständen als Spinner und Wichtigtuer abtun.
Die U-Bahn brachte mich zu der dem Tatort am nächsten liegenden Station. Während der Fahrt dorthin bekam ich neue Ängste. Was, wenn mich die beiden Attentäter erkannten? Angeblich waren es ja nur Kopien gewesen die mich in dem Bunker gesehen hatten. Kopien? Aber sie waren doch wirklich aus dem Wagen der Achter-
bahn verschwunden? Ich wußte nicht mehr was ich denken sollte. Als ich um die Mittagszeit herum ins grelle Sonnenlicht trat standen bereits die ersten Schaulustigen auf beiden Straßenseiten. Langsam schlenderte ich in Richtung der Reiterstatue. Ich blickte an den Häuserfassaden hoch. Die Sonne stand um diese Zeit fast senkrecht über der Straße. Nirgendwo Schatten. Und natürlich hatte ich meine Sonnenbrille vergessen. Das grelle Licht würde meine Aufgabe erschweren.
An meinem späteren Zielort blieb ich kurz stehen. Ich sah mich unter den Wartenden um, blickte zur Reiter-statue. Natürlich waren die beiden Verdächtigen noch nicht da. Sie würden sich erst kurz vor dem Attentat unter die dann dichte Menge mischen. Vermutlich kamen sie aus der gleichen U-Bahnstation die ich vorhin verlassen hatte. Während ich langsam weiterging sah ich mir die Häuserfassaden auf beiden Seiten der Straße genauer an. Ich entdeckte die ein oder andere Überwachungskamera. Aber ob sie etwas verhindern konnten, daran zweifelte ich. Eher waren sie für die spätere Spurenauswertung geeignet. Doch die beiden jungen Leute konnte das nicht mehr stören.
Unwillkürlich schüttelte ich bei dem Gedanken an diese zwei Menschen den Kopf. Was ging in Ihnen vor? Und da kam mir eine Idee. Vielleicht hatten die Fremden die richtige Premierministerin gegen einen Klon aus ihren Reihen ausgetauscht. Und wußten die beiden Attentäter das etwa? Handelten vielleicht im Auftrag der Regierung? Dann hatte ich ganz schlechte Karten. Bei diesem Gedanken kam ich erneut ins grübeln. Warum sollte die Regierung versuchen an einem öffentlichen Platz quasi eine Hinrichtung zu inszenieren? Das konnte man doch auch unauffälliger abwickeln. Halt! Vielleicht hatte sich die falsche Premierministerin in ihrem Palast bereits eingeigelt, umgeben von ihresgleichen. Und da war noch eine Frage: Was war bei diesem Szenario aus der richtigen Premierministerin geworden? Und auf welche Seite sollte ich nun mein handeln stellen?
Die Uhr rückte unaufhaltsam vor. Mehrmals war ich jetzt schon einen guten halben Kilometer in Richtung Startpunkt der Parade gelaufen, um dann wieder meinen Zielort anzusteuern. Die Menschenmenge wurde immer dichter.
Ich sah auf die Uhr. Kurz vor vierzehn Uhr. Ich vernahm plötzlich Jubel. Er kam aus Richtung das Startpunktes. Reiter. Pferde waren bereits zu sehen. Eine Kapelle. Ein Trommlersolo. Bald würden sie die Statue auf der anderen Straßenseite erreichen. Und dann blieb nicht mehr viel Zeit. Die Kehrtwende des Zuges erfolgte dann nach etwa fünfhundert Metern. Ich stellte mich in die hinterste Reihe. Der Gehweg war jetzt so voll, dass ich mit dem Rücken fast zur Hauswand hinter mir stand. Schweiß brach mir aus. Vorsichtig reckte ich den Kopf um über die vor mir Stehenden hinwegzusehen. Manche Väter hatten Kinder auf ihren Schultern. Das erschwerte meine Aufgabe. Vorsichtig sah ich mich um. Nichts von den jungen Leuten zu sehen. Sie konnten eigentlich nur an den Hauswänden entlang zu ihrem Zielort gelangen. Dabei würden sie mich entdecken. Ich verlegte meinen Standort einige Meter nach rechts. Gegenüber kam gerade die Kutsche der Premierminsisterin vorbei. Jubel brandete auf. Ich schob meinen Kopf zwischen zwei Vordermänner. So konnten mich die Attentäter nicht erkennen.
Immer wieder schickte ich verstohlene Blicke in Richtung der U-Bahnstation. Nach weiteren zehn Minuten reckte ich den Kopf und sah die Parade zurückkommen. Auf meiner Seite der Straße. Da die Straße sehr breit war gab es diese Hin-und Rückfahrt. Schließlich sollten die Wartenden die Premierministerin ganz nah erleben können. Als der Zug vielleicht noch dreißig Meter entfernt war hielt ich es vor Anspannung kaum noch aus. Ich begann zu zittern. Der Impuls abzuhauen wurde übermächtig. Was ging mich das an?
In diesem Augenblick sah ich die beiden. Ich hatte sie zu spät entdeckt um dem Plan zu folgen. Keine Zeit mehr loszuspurten. Sie waren schon am Ort des Geschehens. Und tatsächlich. Ihre Kleidung war sehr flippig. Ich kroch förmlich zwischen ein paar Zuschauer und beobachtete sie. Zielstrebig kamen sie auf mich zu und würden in wenigen Sekunden auf Höhe der Reiterstatue sein. Längst hätte ich mich einem der Uniformierten in meiner Nähe anvertrauen können. Dazu war es zu spät. Was sollte ich tun? Meine Gedanken rasten. Ich dachte an meinen Vater. Tu etwas!
Und dann nahmen die Ereignisse eine überraschende Wendung. Mit weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Mund verfolgte ich das unglaubliche Geschehen. Die offene Kutsche war nur noch wenige Meter entfernt. Die beiden Attentäter rissen gewaltsam ein Bresche in die wartenden Zuschauer. Sie wollten direkt vor die Kutsche gelangen. Ich vergaß völlig, dass ich bei einer Explosion inmitten des Geschehens sein würde. Schon sah ich wie vor mir abgerissene Körperteile durch die Luft wirbelten und ich der nächste war den die Bomben zerfetzten. Und trotz dieses Gedankens drängte ich mich durch ein paar Leute um besser sehen zu können. Das ist die morbide Neugier des Menschen an blutrünstigen Dingen. Noch während mir dieser Gedanke durch den Kopf schoß warfen sich beiden jungen Leute unmittelbar vor der Kutsche auf den Asphalt, rissen die Arme in die Höhe und schrien: "Helfen sie uns! Helfen sie uns!"
Ich erstarrte, verstand nicht. War das nun ein letzter Trick bevor sie ihre Sprengsätze zündeten? Es blieb mir keine Zeit weitere Überlegungen anzustellen. Und tatsächlich, es war ein Trick. Der Kutscher zügelte die Pferde, die Karosse kam direkt vor den beiden jungen Leuten zum Stehen. Sie wollten jetzt wohl in die offene Kutsche springen. Wollten ganz sicher gehen. Und während sie sich erhoben um ihre tödliche Fracht zu zünden sprang die Premierministerin, die bislang bequem auf den Polstern der Kutsche gesessen und den Menschen huldvoll zugewinkt und zugelächelt hatte, auf. In ihrer Hand hielt sie eine schwere, offensichtlich großkalibrige Pistole. Schüsse peitschten durch die Luft. Die Menschen duckten sich, schrien und ich tat wohl das gleiche. Und dennoch konnte ich sehen wie die beiden jungen Leute auf dem Asphalt zu Boden sanken. Kein Laut kam mehr über ihre Lippen. Ich sah, dass sie wohl in letzter Sekunde versucht hatten mit den Händen an die Zünder unter ihren flatterigen Kleidern zu gelangen. Vergeblich, denn jetzt wurde mir bewußt, dass die Köpfe der beiden förmlich explodiert waren. Welch eine Kaltblütigkeit. Gezielte Schüsse in den Kopf, damit keine Kugel versehentlich den Sprengstoff treffen konnte.
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