Marie hätte ebenso wie er studieren können, es aber nicht gewollt und sich ihr Leben anders eingerichtet. Als sie sich das zweite Mal trafen, erzählte ihm Marie von ihrer Arbeit auf einem Bauernhof in der Nähe der Stadt. Nicht irgendein Bauernhof, ein ökologisch wirtschaftender Betrieb war das. Sie würde dort zwar nicht viel verdienen, aber mit ihrer Arbeit etwas Positives für die Menschen und die Erde bewirken. Für Harald war das eine andere Welt. So ein Leben hätte er nicht einmal in Gedanken in Erwägung gezogen.
„Wir sind eine tolle Gemeinschaft auf dem Hof“, hatte Marie erzählt. „Wir leben und arbeiten zusammen, ohne uns gegenseitig Konkurrenz zu machen. Das würde dir gefallen, es ist ganz anders als bei euch.“
Das hatte sie ihm geantwortet, nachdem Harald ihr vom Alltag im Labor, dem Konkurrenzgerangel in der Gruppe, vom Rennen um Forschungsgelder, Anerkennung, Vertragsverlängerung und Gunst der Chefs erzählt hatte. Von zehn Studenten durften höchstens zwei nach ihren Abschlüssen weiter in der Gruppe bleiben. Diese Aussicht schuf ein Klima des gegenseitigen Belauerns und Misstrauens. Als Marie das hörte, hatte sie nur ihren Kopf geschüttelt und ihn angelächelt. So etwas schien sie gar nicht zu kennen, dachte Harald und merkte, wie neidisch und ungläubig er sie dabei angesehen haben musste.
Als Harald zwei Jahre alt war, war seine Familie nach Angola gezogen. Sein Vater hatte dort als Ingenieur eine lukrative Beschäftigung für drei Jahre bei einer Kupfermine gefunden. Harald konnte sich an diese Zeit kaum erinnern. Danach kehrte seine Familie ins Ruhrgebiet zurück. Einige Jahre hatten sie dann auf dem Land in der Nähe von Dortmund gewohnt. Eine Zeit, die Harald als öde in Erinnerung geblieben war. Marie nahm das Leben in ländlicher Umgebung ganz anders wahr. Nachdem, was sie erzählte, schienen die Leute auf dem Hof aber glücklicher zu sein als jene, die er in seinem Umfeld bisher kennengelernt hatte.
Als sie das erste Mal miteinander schliefen, kannten sie sich seit drei Wochen. Es hatte sich spontan ergeben. Marie war am Samstagabend zu ihm mitgekommen, nachdem es zu spät geworden war, um noch mit dem Bus vom Bahnhof zurück zum Hof zu fahren. Harald hatte kein Auto, nicht einmal ein Fahrrad. Er wohnte nur knapp zwei Kilometer vom Institut entfernt und erledigte die meisten Wege zu Fuß. Also ging Marie mit zu ihm, und als es spät genug geworden war, um ins Bett zu gehen, war es für beide die natürlichste Sache von der Welt. Für eine Weile wurden sie eins miteinander und vergaßen die Zeit.
Nachdem sie beide ihre Körper entdeckt und danach viel zu aufgekratzt waren, um einschlafen zu können, hatte Harald viel von seiner Arbeit erzählt. Als er dann damit rausrückte, er müsse morgen früh ins Labor, fiel Marie aus allen Wolken. Selbst auf dem Hof, wo die Arbeitszeit sich an den Bedürfnissen von Mensch und Natur orientierte, war der Sonntag, bis auf das absolut Notwendigste, arbeitsfrei.
Im Exzellenzinstitut war das anders. Es war üblich, dass alle aus Jörgs Gruppe auch sonntags wenigstens für ein paar Stunden im Labor tätig waren. Er musste mitmachen, wenn er seine Chance wahren wollte, in der Gruppe zu bleiben. Die meisten aus der Arbeitsgruppe hatten keine privaten Beziehungen außerhalb des Institutes und waren froh, den Sonntag nicht allein verbringen zu müssen.
Halb mit Bewunderung, halb angewidert hatte er das erzählt, fand Marie. Als sie ihm das auf den Kopf zusagte, widersprach Harald nicht.
So trafen sie sich weiter nur an den Wochenenden. Sie gingen in die pequeno cantina , ins Kino und manchmal übernachtete Marie bei ihm. Jedes Mal war sie von Neuem enttäuscht, dass er am Sonntag arbeiten ging und kaum Zeit für sie hatte. Das verstärkte ihre Neugier auf diese, ihr fremde Welt, die Harald wie eine böse Fee im Bann hielt. Vielleicht war sie auch eifersüchtig, ob es dort nicht eine andere Frau gab, die Harald ihr verschwieg.
Jörg hatte die gesamte Arbeitsgruppe für eine wichtige Mitteilung zusammengetrommelt. Es ging um eine Anordnung des städtischen Gesundheitsamtes. Für Arbeiten mit Infektionserregern galten ab sofort schärfere Sicherheitsmaßnahmen. Seine Sekretärin, Frau Steiner, verteilte Fragebögen, in denen alle Angaben über ihren Gesundheitszustand, chronische Krankheiten, Allergien, Kontaktpersonen und Medikamenten-, Tabak- und Alkoholkonsum geben sollten.
„Das wäre das Eine“, hatte Jörg gesagt und betont, dass er genau wie alle anderen teilnehmen würde. In seinem blütenweißen Kittel, den er für die Besprechung angezogen hatte, wirkte er wie der Chefarzt persönlich. „Zweitens. Jeder muss ohne Ausnahme, mich eingeschlossen, eine Stuhlprobe abgeben. Die Ergebnisse aus den Stuhluntersuchungen werden bei uns archiviert. Wenn das Gesundheitsamt die Ergebnisse einsehen will, kann man auf die archivierten Proben und die dazugehörigen mikrobiologischen Untersuchungsergebnisse zurückgreifen.“
Marko Brant schüttelte den Kopf und protestierte. „Das hat es doch noch nie gegeben! Was soll das Ganze? Das ist ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte! Ich weigere mich, da mitzumachen!“
„Es gibt Leute, die nur darauf warten, uns wegen mangelnder Sicherheitsmaßnahmen etwas ans Zeug zu flicken. Wenn du nicht mitmachst, kannst du nicht mehr mit Infektionserregern arbeiten“, hatte Jörg dem murrenden Marko geantwortet.
Harald fand Jörgs Argument verständlich. Jeder, der auch nur in einer Currywurstbude arbeitete, musste sich untersuchen lassen und Fragebögen ausfüllen. Schließlich wollte man die Menschen damit vor Ansteckungen durch Überträger von gefährlichen Mikroben schützen.
Marko nahm seinen Studenten Holger beiseite und ging nach der Besprechung in sein Labor. Nachdem er die Tür geschlossen und sich eine Zigarette angesteckt hatte, sagte er: „Wenn der glaubt, er kann mir vorschreiben, womit ich wann und wo zu arbeiten habe, hat er sich geschnitten.“
Er blies wütend den Rauch aus. Holger lächelte gequält. Ihm war nicht wohl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, er wollte keinen offenen Konflikt, weder mit Marko noch mit Jörg.
„Kein Wort über unsere Arbeiten zu niemand“, sagte Marko, als hätte er Holgers Gedanken erraten. Holger nickte bedrückt.
„Mach dir keine Gedanken, von mir aus bekommt er seine Stuhlproben, solange er sich nicht in unsere Projekte einmischt.“ Marko lachte hämisch. „Er wird ja nicht jedem Einzelnen bis ins Klo hinterlaufen!“
An diesem Freitagabend kam Marie überraschend ins Institut, um Harald abzuholen. Er hatte nichts davon gewusst, war noch nicht mit seinem Versuch fertig und fiel aus allen Wolken, als sie gegen sieben Uhr auftauchte und sich bis zu seinem Labor durchgefragt hatte. Weil er noch zu tun hatte, musste Marie auf dem Flur vor dem Labor auf ihn warten. Aus Sicherheitsgründen durften Unbefugte den Laborbereich nicht betreten und Ines hätte auch keine Ausnahme zugelassen. So traf Jörg auf Marie, als er seine abendliche Runde durch die Laborräume drehte, um zu schauen, wer noch fleißig arbeitete. Neugierig sprach er sie an, erfuhr, dass sie Haralds Freundin war und noch ein paar Dinge mehr. Jörg konnte zu Frauen, die ihm gefielen, charmant sein und Marie ließ sich, wie er fand, davon beeindrucken.
Als Jörg dann zu Harald ins Labor kam, sah er belustigt zu, wie dieser sich bemühte, seinen Versuch schnell unter Dach und Fach zu bringen. Beim Rausgehen meinte er nebenbei: „Ne' süße Freundin hast du dir da aufgegabelt, Harald.“ Er grinste zweideutig und ließ den verduzten Harald vor seinen Proben stehen.
Harald war irritiert, dass Jörg über alles und jeden Bescheid zu wissen schien. Er beendete unkonzentriert seinen Versuch und räumte seine Sachen schnell zusammen. Zum Glück war Ines gerade woanders gewesen, als Jörg seinen Spruch abgelassen hatte. Eine halbe Stunde war inzwischen vergangen. Als Harald auf den Flur trat, war Marie nicht mehr zu sehen. Jörg, der Kavalier, hatte sie sicherlich mit in sein Büro genommen, um sich bei einem Kaffee weiter mit ihr zu unterhalten. Die plötzlich aufkommende Eifersucht nahm Harald in ihren Griff. Nach unentschlossenem Hin und Her ging er den Flur entlang in die Richtung von Jörgs Büro. Bevor er dort ankam, lief ihm Marie durch eine Seitentür direkt in die Arme.
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