Zwar hatte es in Deutschland auch schon vor 2011 kleinere Ausbrüche mit anderen EHEC-Bakterien gegeben. Jedoch waren diese im Vergleich zur EHEC-O104 Seuche von 2011 unbedeutend. Die Epidemie von 2011 unterscheidet sich in vieler Hinsicht von allem, was vorher über EHEC bekannt war. Bei EHEC-O104 hat man es mit einem völlig neuen Erreger zu tun. Ein Killerbug , ein mörderisches Bakterium, das durch die Kombination von zwei bereits bekannten Krankheitserregern entstanden ist. Das Produkt dieser Kombination ist weitaus gefährlicher als die Vorläufer, aus denen das Killerbakterium zusammengesetzt ist.
EHEC-O104 bringt alles mit sich, um den Menschen das Fürchten zu lehren. Der Keim ist gegen viele der modernsten Antibiotika resistent und hervorragend ausgestattet, den Verdauungstrakt des Menschen massiv zu besiedeln. Dazu produziert er ein starkes Zellgift (Shigatoxin-2), das für den blutigen Durchfall und die Nierenschäden verantwortlich ist. Die Kombination aller dieser Faktoren in ein und demselben Krankheitserreger ist neu. Bald schon wird darüber spekuliert, ob dieser Keim nicht das Produkt einer genetischen Manipulation sein könnte, beziehungsweise absichtlich in den Umlauf gebracht wurde. Diese Vorstellungen werden davon genährt, dass fast alles an dem EHEC-O104 nicht dem entspricht, was man vorher über EHEC wusste.
Seine bevorzugten Opfer sind jüngere, erwachsene Frauen, die sich bewusst ernähren und keine gesundheitlichen Risikofaktoren aufweisen. Die Zeit zwischen der Ansteckung und dem tatsächlichen Ausbruch der Erkrankung ist außergewöhnlich lang. Mit der Folge, dass äußerlich gesunde, aber bereits infizierte Patienten als Ansteckungsquelle wochenlang mit anderen Menschen Kontakt haben. Aber das Merkwürdigste an EHEC-O104 ist die Tatsache, dass man ihn nicht dort findet, wo EHEC in der Natur sonst gewöhnlicherweise vorkommen. EHEC-Bakterien besiedeln natürlicherweise den Darmtrakt von Tieren, hauptsächlich Rinder und Schafe. EHEC-O104 findet man jedoch nicht bei Tieren, sein einziges bekanntes Reservoir ist der Mensch selbst.
Viele dieser Merkwürdigkeiten sind bald nach Beginn der EHEC-O104 Epidemie bekannt. Umso dringender wird die Frage: Woher kommt diese Seuche?
Die Suche nach der Herkunft des EHEC-O104 gestaltet sich zu einer Schnitzeljagd. Zuerst geraten spanische Gurken in Verdacht, mit dem Erreger verseucht zu sein. Eine Behauptung, die sich bald als haltlos erweist, aber da ist es bereits zu spät. In der Folge wird die europäische Landwirtschaft in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt. Der Absatz von Gurken und anderem Gemüse bricht zeitweilig völlig zusammen und Verluste von mehreren Hundert Millionen Euro sind zu verzeichnen. Nach den Gurken werden Keimsprossen, die aus einem Gartenbaubetrieb in Norddeutschland stammen, als Quelle des Ausbruchs vermutet. Jedoch werden, bis auf eine Ausnahme, keine EHEC-O104 aus den Keimsprossen isoliert. Nachdem die verdächtigen Keimsprossen vom Markt genommen sind und der Betrieb die Produktion eingestellt hat, geht die Zahl der Neuansteckungen rapide zurück. Der EHEC-Ausbruch endet wenige Wochen danach gänzlich.
Woher die Seuche ursprünglich gekommen ist, bleibt bis heute im Dunklen. Die europäische Gesundheitsbehörde EFSA vermutet ihre Ursache in EHEC verseuchten Bockshornkleesamen, die aus Ägypten importiert und für die Produktion von Keimsprossen dienten. Die Einfuhr der Samen aus Ägypten wird sofort gestoppt. Jedoch werden die EHEC-O104 Erreger auch in den Bockshornkleesamen selbst nach intensiver Suche nicht gefunden.
Bis heute ranken sich um einen der weltweit größten EHEC-Ausbrüche viele offen Fragen, die zu Spekulationen Anlass geben. Auch die Vorstellung, EHEC-O104 sei eine konstruierte Biowaffe und absichtlich über Lebensmittel ausgebracht worden, ist eine der Hypothesen, die ins Spiel gebracht wurden. Genährt werden solche Vermutungen auch dadurch, weil eine absichtliche Kontamination eines Lebensmittels mit EHEC-Bakterien die gleichen Auswirkungen hätte, wie ihre ungewollte Verseuchung durch einen infizierten Menschen, der EHEC-Bakterien ausscheidet.
Vor diesem Hintergrund spielt die Geschichte des Romans EHEC-Alarm.
Berlin, im April 2013
Lothar Beutin
Dein Leben kannst du nur alleine bewältigen, ohne die anderen geht es nicht.
Als man sie bemerkte, war sie schon längst da. Eine Epidemie ist immer schon da, bevor man von ihr Kenntnis nimmt. Es dauerte seine Zeit, bis die zuständigen Stellen in der Gesundheitsüberwachung bemerkten, dass die Zahl der Infektionen mit EHEC-Bakterien über das sonst übliche Maß anstieg. Dazu trug auch die schlechte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Behörden bei, die sich gegenseitig ihre Zuständigkeiten streitig machten. Aber auch Scheu vor Verantwortung, Bequemlichkeit, Ignoranz und Profilneurosen in manchen Führungsetagen taten ihr Übriges, um eine Zusammenarbeit zu behindern.
Ab einem bestimmten Pegelstand bei der Zahl der Neuerkrankungen hielten die Dämme der persönlichen Befindlichkeiten und der Abgrenzungen zwischen den Institutionen nicht mehr stand. Nachdem in der an der Elbe gelegenen Kreisstadt Brunsbüttel die Fälle von akutem Nierenversagen unerklärlich zugenommen hatten, lichtete sich der Dunst in den Betonköpfen, der die Störung der alltäglichen Geschäfte nicht freiwillig zuließ. Die EHEC-Epidemie tauchte in ihren Konturen aus dem Nebel auf und von da an überschlugen sich die Ereignisse.
Die Epidemie kümmerte das nicht, sie fand einfach statt. Wie man sich auch zu ihr stellte, man wurde mitgerissen, wie von einer Flut, die sich nicht darum schert, was ihr in den Weg kommt. Am Morgen des 29. April 2011 hatte Leo Schneider es schwarz auf weiß auf seinem Bildschirm. Eine E-Mail aus dem Richard Pfeiffer Institut mit der lapidaren Meldung über eine ungewöhnliche Häufung von Patienten mit Nierenversagen im Landkreis Dithmarschen. Zuerst dachte Schneider an einen Zusammenhang zwischen den Erkrankten. Das war nur logisch. Es kam öfter vor, dass sich mehrere Restaurantgäste auf einen Schlag mit Krankheitserregern infizierten, wenn das Essen mit Bakterien verseucht war. In den meisten Fällen waren es Salmonellen. Seltener waren es EHEC, aber dann verliefen die Erkrankungen viel dramatischer. Die übelste Komplikation bei EHEC-Infektionen war eine Form des Nierenversagens, die als HUS bezeichnet wurde. Von HUS war die Rede gewesen in der Meldung des RPI. Für Schneider bedeutete HUS, dass sein Labor und er gefordert waren.
EHEC stand für enterohämorrhagische Kolibakterien. Ein paar Hundert dieser Bakterien in einer Mahlzeit reichten schon aus, um blutigen Durchfall oder HUS hervorzurufen. Meist blieb es bei wenigen Erkrankungen, wenn der Ausbruch sich auf eine Familie, einen Kindergarten, ein Altenheim, oder ein Restaurant begrenzte. Die mit EHEC verseuchten Lebensmittel hatte man in der Regel schnell identifiziert und aus dem Verkehr gezogen. Damit blieb der Ausbruch auf das unmittelbare Ereignis beschränkt. Aber dieses Mal sah es nicht so aus. Nachdem im Laufe des Vormittags mehr Informationen zu den HUS-Fällen in Brunsbüttel eintrudelten, wurde klar, dass es sich nicht um ein isoliertes Geschehen handelte. Es gab mehrere Ausbruchsnester in der Stadt und im Landkreis Dithmarschen, zwischen denen kein erkennbarer Zusammenhang bestand.
Schneider griff zum Telefon und rief Karsten Seiboldt an, den Leiter des Brunsbütteler Lebensmitteluntersuchungsamtes. Seiboldt war freundlich, blieb in der Sache aber vage. Es sei noch zu früh, um über mögliche Ursachen zu spekulieren, man müsse abwarten. Hilfe wollte Seiboldt nicht, meinte nur, das sei zu früh und zu diesem Zeitpunkt nicht nötig. Außerdem hätte er in der Sache schon Kontakte zur Arbeitsgruppe von Professor Puster am Exzellenzinstitut in Kiel aufgenommen.
Er weiß mehr, als er sagt, dachte Schneider. Aus Seiboldts Stimme spürte er den Druck, der auf ihn lastete. Möglich, dass er das nächste Mal gar nicht mehr zu sprechen sein würde, wenn Schneider anrief.
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