Hermine hätte fortgehen können, doch die Stelle war sicher, solange sie sich nichts zuschulden kommen ließ. Ihr Geld bekam sie jeden letzten Tag im Monat, nicht pro Woche. Hauptsache, es wurde pünktlich gezahlt, was geschah, und so blieb sie, denn sie mochte die Familie, die arg schwer vom Schicksal gebeutelt war.
Seit dem Tod des Vaters war Pascal das Familienoberhaupt der Justines. Er war noch jung an Jahren, doch die Last lag nun auf seinen Schultern. Claire, seine Schwester, versuchte ihm so viel abzunehmen, wie sie konnte. Seitdem sie in Vater Francks Fußstapfen getreten war, ging es ein wenig mit der Firma bergauf, doch gerettet war sie noch lange nicht. Das würde noch eine ganze Weile dauern.
"Johann wird für einige Zeit bei uns wohnen bis wir seinem Großvater schonend beigebracht haben, dass sein Sohn tot ist, aber sein Enkel lebt."
"Der arme Richard. Ein so lieber Junge. Aber das kommt davon, wenn man sich gegen seine Vorbestimmung stellt."
"Mutter!"
Pascal sog scharf die Luft ein. Diesen Seitenhieb hätte sie sich wirklich sparen können. Missmutig sah er sie an. Ständig erinnerte sie ihn daran, dass er als ältester und einziger Sohn der Familie nicht der Tradition gefolgt war, um später in die Firma einzutreten und sie zu leiten. Stattdessen hatte er den Wunsch geäußert Arzt werden zu wollen. Ein Kaufmannssohn, der lieber Quacksalber werden wollte, wo hatte es das schon gegeben? Claires Intervention war es zu verdanken, dass er doch Medizin studieren durfte.
Allerdings hatte seine Mutter nicht die Absicht gehabt, ihn zu unterstützen. Die Firma war auf jeden Pfennig angewiesen, weshalb er dort nicht aushalf. Sehr wahrscheinlich hätte er nur mehr Arbeit gemacht als sich nützlich zu tun. Auf Bestreben seines Mentors hatte er eine Stelle als Tierpfleger bei Hagenbeck bekommen. Dies lag günstig zu seinem Wohnhaus und er konnte seinen Mentor bei der Arbeit unterstützen, wenn dieser wieder Menschen für eine neue Völkerschau untersuchen musste.
So hatte er damals auch den Auftrag erhalten, Masut zu bewachen, ob dieser nicht doch noch irgendwelche Krankheitssymptome zeigen würde. Deshalb war er auf Johann aufmerksam geworden, der ihm so gar nicht ägyptisch erscheinen wollte. Das hatte vielleicht auch daran gelegen, dass er ihn kaum arabisch reden gehört hatte. Selbst Masut unterhielt sich auf Deutsch mit ihm. Und als er eines Tages Johann ohne Verkleidung gesehen hatte, war er zuallererst erstaunt gewesen. Der falsche Ägypter war in Wirklichkeit ein blonder Junge.
"Ich sage nur, was ich denke."
"Was du meist für dich behalten könntest", erwiderte Pascal und schob Madame Justine zur Seite. "Es kann nicht immer alles nach deinem Willen gehen. - Komm, Johann, ich zeige dir dein Zimmer."
Johann nahm den verhüllten Krug und folgte dem jungen Tierpfleger die Treppe hoch. So entging ihm der Wortschwall, den Madame Justine losließ.
Sie regte sich über Pascal und Claire im Besonderen auf. Wie konnten die beiden es wagen, ihren Eltern oder ihrer Mutter zu widersprechen? Eine Frau, die eine Firma leitete, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie war in Claires Alter bereits verheiratet gewesen. Doch Claire schien es vorzuziehen, eine alte Jungfer zu werden. So viele Männer hatten sich um sie bemüht, doch alle hatte sie abgewiesen und ihrer Mutter vor den Kopf gestoßen. Pascal wollte lieber Arzt werden und arbeitete als Tierpfleger. Wie tief musste die Familie noch sinken?
Madame Justines Gekeife verstummte, als Pascal die Tür des Zimmers schloss, das nun Johanns neues Reich sein sollte.
"Kümmere dich nicht darum und ignoriere meine Mutter einfach. Irgendwann wird sie schon aufhören. Und nun willkommen in deinem neuen Reich."
Johann hatte sich schnell eingelebt. Selbst Madame Justine konnte seine Freude über sein neues Leben nicht trüben. Bereits nach einigen Tagen hatte er erkannt, dass sie gar nicht so schlimm war, wie er sie bei seiner Ankunft kennengelernt hatte. Sie war sogar äußerst liebenswürdig und kümmerte sich rührend um ihn. Manchmal wurde es ihn allerdings zu viel und dann flüchtete er auf sein Zimmer. Er hatte erkannt, dass Madame Justine nur in Gegenwart ihrer Kinder so kratzbürstig war. Anscheinend hoffte sie immer noch, dass Pascal und Claire ihren wahren Bestimmungen folgen würden.
Wenn sie so mit den Entscheidungen ihrer Kinder haderte, warum hatte sie nicht bestimmt, sondern deren Willen geschehen lassen? Das verstand er nicht, wagte aber auch nicht zu fragen. Vielleicht würde man ihn für neugierig halten. Außerdem war es sicherlich eine Familienangelegenheit. Und zur Familie konnte er sich nun gleich gar nicht zählen, so freundlich er auch behandelt wurde.
Heute war Sonntag und Pascal hatte Johann versprochen, dass er mit in den Tierpark dürfe. Vor lauter Freude hatte er Pascal umarmt, war in die Luft gesprungen und hatte gejubelt. Nur langsam hatte er sich wieder beruhigen können.
"Kommt denn Claire auch mit?", hatte er wissen wollen.
"Wenn sie will und Zeit hat. Wenn sie kommt, kannst du sie fragen. Vielleicht hast du Glück."
Er hatte Glück gehabt. Nun standen er und Claire am imposanten Eingangstor und warteten auf Pascal.
Fasziniert sah Johann am Tor auf die Figuren. Zwei Elefantenköpfe mit Laterne im Rüssel hingen links und rechts über den beiden Torgittern. Ein Indianer, Eisbären und Robben befanden sich oben auf beiden Torseiten. Naturgetreu und lebensecht sahen sie aus.
Gleich hinter dem Eingangstor warteten Ponys, eine kleine Eisenbahn und ein Reitelefant auf die großen und kleinen Besucher.
Die Besucher, meist Familien, die am Sonntag einen gemeinsamen Ausflug unternahmen, strömten an ihnen vorbei. Langsam wurde Johann ungeduldig. Was machte Pascal nur, dass er nicht kam und sie abholte?
"Er wird uns schon nicht vergessen haben", sagte Claire, die seine Gedanken gelesen haben musste. "Wahrscheinlich hat er noch etwas zu erledigen. Die Arbeit geht vor. Wenn er fertig ist, wird er sicher kommen."
Hatte er da einen skeptischen Unterton in ihrer Stimme gehört? Zweifelte sie daran, dass Pascal kommen würde? Warum hatte er sie zu einem Tierpark-Besuch eingeladen, wenn er nicht käme?
"Wir warten noch ein bisschen. Pascal war noch nie pünktlich."
Würden sie eben noch warten müssen. Dabei wollte er doch zu Masut und ihm von seinem neuen Leben erzählen. Wieso nur war Geduld so anstrengend?
"Entschuldigt, aber Jette wollte mich nicht gehen lassen. Hat eben einen Dickkopf die Schöne. Wenn sie was will, kriegt sie es auch. Aber dafür hat sie einen besonderen Charakter", sagte Pascal und blieb atemlos vor seiner Schwester und Johann stehen.
"Ist das deine Freundin?", wollte Johann wissen, der den Namen schon einmal gehört hatte.
"Jette?", Pascal begann zu lachen. "Nicht wirklich. Aber wen sie mag, der kann sich schon als ihr Freund bezeichnen. Ich werde sie euch nachher zeigen."
"Jette ist ein Elefant, genauso wie Bertha, seine ganz besondere Freundin", fügte Claire schmunzelnd hinzu.
Johann machte große Augen und senkte den Kopf, damit man nicht sah, wie er rot anlief.
"Du brauchst nicht beschämt sein. Pascal redet von seinen Elefanten immer als seien es Menschen."
"Na und, die sind schlauer und sensibler als du denkst."
"Ja, ja, bleib du bei deinen Elefanten und ich bleibe bei meinen Zahlen. Jedem sein Spezialgebiet."
"Gehen wir?", fragte Johann ungeduldig. Die Kabbeleien der Geschwister gingen ihm allmählich auf die Nerven.
"Schon gut, du willst zu Masut", sagte Pascal und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. "Aber zu deinem ägyptischen Freund gehen wir später. Der läuft uns nicht weg."
"Dann zeig mir deine Bertha, ich will sie sehen."
Pascal lachte und sie betraten durch das Eingangstor den Tierpark.
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