Gerade wollte er losfahren, da klingelte sein Handy. Es war Bernhard.
„Papa“, sagte er etwas aufgeregt, „du hast noch mein Gepäck im Auto. Ich weiß doch gar nicht genau, wo du wohnst. Wir sind ja vorhin direkt vom Bahnhof zum Schloss hochgefahren. Und einen Schlüssel für deine Wohnung habe ich auch noch nicht.“
Travniczek schluckte. Wie konnte er so unaufmerksam sein und seinen Sohn so im Stich lassen?
„Für die Bergbahn hast du ja die Rückfahrkarte. Dann komm jetzt so schnell wie möglich runter. Ich muss hier eben so lange warten. Ich gebe dir dann dein Gepäck, einen Hausschlüssel und spendiere dir ein Taxi zu mir nach Hause.“
„Schade, ich wäre gerne noch etwas hier oben geblieben“, antwortete Bernhard mit vorwurfsvollem Unterton. „Aber dann muss es eben so sein.“
Er legte auf.
Travniczek rief seine Kollegin Martina Lange an, sein Eintreffen am Tatort werde sich weiter verzögern, er sei aufgehalten worden. Dann verließ er mit dem Gepäck seines Sohnes wieder seinen Wagen und ging zurück an die Bergbahnstation. Die Wartezeit schien endlos. Als Bernhard nach einer knappen halben Stunde endlich aus der Bergbahn stieg, übergab er ihm sein Gepäck, den Hausschlüssel und bestellte ein Taxi. Dann wollte er ihn noch mit Geld ausstatten, bemerkte aber, dass er selbst auch nicht mehr viel bei sich hatte. So gab er ihm seine EC-Karte und verriet ihm die Geheimzahl. Er war froh, als das Taxi endlich kam. Langsam ging er zurück zu seinem Auto. Seine Gedanken kreisten in der Vergangenheit. Er musste sich eingestehen, dass ihm die letzte Stunde exemplarisch vor Augen geführt hatte, warum seine Familie in München zerbrochen war. Es war wohl doch seine Schuld.
Es war schon zwanzig nach fünf, als Hauptkommissar Travniczek endlich vom Parkhaus Kornmarkt aufbrechen konnte. Er ließ das Seitenfenster herunter, um sich den Fahrtwind über das Gesicht blasen zu lassen. So wollte er die Gedanken an seine Familienkatastrophe verscheuchen und den Kopf freibekommen für das, was jetzt auf ihn wartete. Und das war wohl auch eine Katastrophe. So viel hatte er durch die Andeutungen seiner Kollegin schon verstanden.
Er überquerte den Kornmarkt und fuhr viel zu schnell durch den hinteren Teil der Hauptstraße, obwohl er in seinem Privatwagen weder Blaulicht noch Martinshorn zur Verfügung hatte. Hinter dem Karlstor wurde der Verkehr wie immer am späteren Freitagnachmittag sehr dicht. Es ging oft nur im Stop-and-go voran. So dauerte es fast zwanzig Minuten, bis er in Schlierbach* über die Neckarbrücke auf die Ziegelhäuser Seite fahren konnte.
Kurz nach der Ausfahrt aus Ziegelhausen wartete linker Hand an einer Abzweigung ein Streifenwagen mit Blaulicht, neben dem etwas gelangweilt ein Beamter stand. Der beschrieb Travniczek den weiteren Weg zum Tatort. Als er in das Bärenbachtal einbog, sog er die angenehme Waldluft ein und vergaß für kurze Zeit fast, warum er hier unterwegs war. Oben am Tatort begegnete er hektischem Treiben. Spurensicherung und Gerichtsmedizin waren intensiv bei der Arbeit.
Er suchte und fand Martina Lange und Brombach, der mittlerweile auch an den Tatort gekommen war.
„Na, hast du es endlich auch geschafft?“, fragte der ihn frotzelnd.
„Nun ja, es ging einiges durcheinander. An diesem Wochenende ist erstmals mein ältester Sohn aus München zu Besuch gekommen und wir haben uns die Zeit natürlich etwas anders vorgestellt.“
„Kriminalistenschicksal“, meinte die Kollegin mitfühlend.
„Aber lassen wir das Geplänkel“, beendete Travniczek dieses Thema, „zur Sache: Wie ist die Lage?“
„Beschissen“, entgegnete Brombach, der mitgenommen aussah. „Das ist mal wieder einer der Fälle, wo es dem Täter nicht reicht, sein Opfer zu töten. Er wollte es offenbar physisch vernichten. Zwei Schüsse mit einer Schrotflinte in Gesicht und Brust. Da ist nichts mehr zu erkennen. Und dann hat er ihr auch noch die Hände abgehackt.“
„Woher weißt du, dass es ein ‚er‘ ist?“, fragte Travniczek provozierend.
„Also“, entgegnete Brombach mit Kopfschütteln. „Ich bin ja sehr für die Emanzipation des Mannes. Aber so etwas bringt wohl doch nur unsere Form der Spezies Mensch fertig.“
„Wissen wir schon, wer sie ist?“
„Mit hoher Wahrscheinlichkeit“, schaltete sich jetzt Lange ein. „Ich war als Erste am Tatort. Von meiner Wohnung in Ziegelhausen ist es ja nur ein Katzensprung. Und was ich hier vorfand, war schon wirklich krass. Auf der verstümmelten Leiche lag ein Mann, der die Tote fest in seinen Armen hielt. Ich brauchte lange, ihn dazu zu bewegen loszulassen. Er steht völlig unter Schock. Wir wollten ihn dann eigentlich gleich in ein Krankenhaus bringen. Aber er wollte nicht. Und dann hat er mir irgendwann wenigstens seinen Namen genannt: Freimuth Wendlandt, und dass die Tote seine Frau sei. Den Namen kenne ich. Er ist ein renommierter Bildhauer, hat hier in Heidelberg unter anderem am Karlsplatz* den Sebastian-Münster-Brunnen 3gestaltet. Er wohnt in Ziegelhausen und gehört zur Heidelberger High Society. Und die Tote müsste dann Dr. Angela Wendlandt sein, Richterin am hiesigen Landgericht. Sie galt als brillante Juristin.“
„Kommt er als Täter in Frage?“, setzte Travniczek nach.
„Schwer zu sagen“, antwortete Lange nachdenklich. „Ausschließen kann man es zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht. Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Er müsste dann seinen Zusammenbruch perfekt gespielt haben.“
„Müssen wir also klären. Ich will jetzt erst die Tote und den Tatort sehen.“
„Dann mach dich mal auf etwas gefasst“, meinte Brombach, während Travniczek den Pfad zur Hütte hinaufstieg. Als er oben die Leiche sah, die gerade von Dr. Melchior, dem Gerichtsmediziner, untersucht wurde, traf ihn der Schock doch tiefer, als er nach der Vorwarnung angenommen hatte. Er fing sich aber schnell, tippte den Pathologen an die Schulter und fragte: „Dr. Melchior, wie sieht es aus? Können Sie schon etwas sagen?“
Der Angesprochene blickte auf: „Genaues natürlich, wie immer, erst nach der Obduktion. Aber hier scheint die Lage ziemlich klar zu sein. Der Tod dürfte vor zweieinhalb bis drei Stunden eingetreten sein. Die Todesursache ist eindeutig. Beide Schüsse waren für sich genommen tödlich. Weiteres wird sich finden.“
„Und die Hände, wurden sie ihr vor oder erst nach ihrem Tod abgetrennt?“
„Mit Sicherheit nach ihrem Tod. Es gibt keinerlei Kampfoder Abwehrspuren und niemand lässt sich ohne Gegenwehr einfach die Hände abhacken.
„Und noch eines: Gibt es Hinweise auf eine Vergewaltigung?“
„Nein, das Opfer ist vollkommen bekleidet.“
„Das ist doch schon eine ganze Menge. Vielen Dank erst einmal.“
Der Umgang zwischen Dr. Melchior und Travniczek war viel angenehmer geworden, seit sie sich vor einem guten halben Jahr zum ersten Mal begegnet waren. Denn sie hatten eine gemeinsame Passion entdeckt: das Schachspielen. Seitdem sahen sie sich regelmäßig auch außerhalb des Dienstes, und zwischen ihnen begann allmählich eine Freundschaft zu entstehen.
Travniczek wandte sich ab, atmete einige Male tief durch und suchte dann Breithaupt, den Chef der Spusi. Er fand ihn erst nach einer Weile. Er stand mit dem Rücken an einen Bu-
chenstamm gelehnt, rauchte eine Zigarette und blickte düster vor sich hin, was eigentlich gar nicht zu ihm passte. Als er Travniczek sah, wandte er sich ihm zu und sagte: „Ach, Travniczek, gut, dass Sie kommen. Wenn ich so etwas wie hier noch öfter erlebe, quittiere ich meinen Dienst und wandere nach Alaska aus, Ananas züchten. Die Tote erinnert mich an den Winkelmann, damals bei Ihrem ersten Fall19 hier. Ähnlich zugerichtet. Suchen Sie den Täter unter den Heidelberger Metzgern, da dürfte er am ehesten zu finden sein.“
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