1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Noch einmal rief er seine Frau an. Aber wieder meldete sich nur die Mailbox. „Die Polizei muss sie suchen“, sagte er vor sich hin und wählte die 110. Aber die wollten nichts unternehmen, solange es keine konkreteren Hinweise auf einen Unfall oder eine Straftat gäbe. Was konnte er noch tun? Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich in die tiefe, weich gepolsterte Couch fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Jetzt klar denken!“, forderte er sich auf und erinnerte sich an Übungen, die er früher einmal gelernt hatte. Er schloss die Augen und versuchte, langsam und tief ausund einzuatmen. Nur schwer konnte er sich konzentrieren. Aber nach einer gewissen Zeit gelang es ihm doch, wieder einigermaßen ruhig zu werden.
„Kreative Problemlösung!“, ermunterte er sich selbst. „Als Künstler machst du das doch dauernd. Denk dir eine Geschichte aus, die zu all dem passt.“ Aber hier versagte seine Fantasie. Da klingelte das Telefon. Mit raubtierhafter Geschwindigkeit sprang er auf, rutschte aber auf einem Teppich aus, schlug der Länge nach auf den Boden und realisierte gar nicht, dass er sich dabei eine Hand verstauchte. Sofort kam er wieder auf die Beine, riss den Telefonhörer an das Ohr und hörte die flüsternde Stimme seiner Frau: „Gott sei Dank bist du da – ich werde verfolgt – da ist ein Mann mit einem Gewehr – der will mich töten – aber ich habe mich versteckt …“
„Wo bist du? Warum bist du nicht zu Hause?“
„Ich bin hier im Bärenbachtal, oben an der Neckarblickhütte.“
„Aber was um alles in der Welt machst du denn jetzt da oben?“
„Das kann ich jetzt nicht erklären – versuch, so schnell wie möglich zu kommen – wenn er mich findet, bin ich verloren!“
„Hast du die Polizei angerufen?“
„Nein, komm bitte schnell! … O Gott, jetzt hat er mich entdeckt – er kommt – jetzt ist es aus!“ Etwas entfernt hörte er eine aggressive Männerstimme: „Jetzt vollzieht sich das Schicksal. Es ist aus mit dir!“ Dann fiel ein Schuss, gleich darauf ein zweiter, und Sekunden später wurde das Handy ausgeschaltet. Nur noch ein schnelles Tüt – tüt – tüt – tüt – … war zu vernehmen.
Einige Sekunden hörte er wie geistesabwesend diesen Tönen zu, bis er langsam realisierte, was offenbar gerade geschehen war. Er warf den Hörer weg und stürmte aus dem Haus. Blitzartig startete er seinen Mercedes und raste mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen los, den Moselgrund hinunter über den Friedhofsweg zur Schönauer Straße. Die Schranke vor der Biegung ins Tal war glücklicherweise nicht geschlossen. Er raste weiter und erreichte bald die Abzweigung des Weges hinauf zur Neckarblickhütte. Oben stieg er aus, sah
sich um, konnte aber zunächst nichts Beunruhigendes entdecken.
Hatte es den Telefonanruf überhaupt gegeben oder war seine Einbildung mit ihm durchgegangen? Langsam und ängstlich zitternd stolperte er hinauf zur Hütte. Als er in ihr Inneres sah, stockte sein Herz. Vor ihm lag seine Frau auf dem Rücken, oder das, was von ihr noch übrig war. Ihr Gesicht war völlig zerstört. Jemand hatte ihr mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen. Ein zweiter Schuss hatte ihre Brust zerfetzt. Und zu allem Überfluss waren ihr dann auch noch die Hände abgehackt worden. Die Zeit stand still. Unendlich lange verharrte er regungslos, ohne wirklich zu begreifen, was geschehen war. Dann sank er auf die Knie, fiel über den noch warmen Leichnam und drückte ihn bitterlich schluchzend an sich.
Völlig bewegungslos blieb er so liegen, bis ihn nach fast einer Stunde zufällig vorbeikommende Wanderer entdeckten und sofort die Polizei alarmierten. Zwanzig Minuten später fand ihn Oberkommissarin Martina Lange von der Mordkommission Heidelberg. Sie wohnte in Ziegelhausen und war schon zu Hause, als sie die Nachricht von der Toten im Bärenbachtal erreichte. Deshalb war sie als Erste am Tatort. Als sie die grausam verstümmelte Leiche, eng umschlungen von einem Mann, sah, wusste sie sofort, dass das eines der Bilder war, die sie für immer im Gedächtnis behalten würde.
Sie brauchte einige Zeit, um sich selbst wieder zu fangen. Dann beugte sie sich zu dem Mann hinunter und versuchte, ihn von der toten Frau zu lösen. Aber er wollte nicht loslas sen. Erst nach vielen guten Worten und auch mit etwas sanf ter Gewalt konnte sie ihn dazu bewegen, die Arme zu öffnen und die Tote freizugeben. Zitternd erhob er sich mit ihrer Unterstützung. Sie führte ihn den Pfad zum Hauptweg hinunter und setzte ihn auf einen der Baumstämme, die längs des Weges lagen. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und weinte mit geschlossenen Augen leise in sich hinein. Martina Lange setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand, ohne
darauf zu achten, wie blutbefleckt sie war. Es würde lange dauern, bis man ihn fragen konnte, was hier eigentlich geschehen war.
Inzwischen waren auch zwei Streifenwagen den Berg heraufgekommen. Die Beamten machten sich daran, den Tatort zu sichern.
Und was können diese Programme jetzt genau?“, fragte Thomas Dehler seinen Chefprogrammierer Mario Friedrich gespannt.
Stolz präsentierte Mario seine Arbeit: „Das Erste hier gehört sicher zum Besten, was ich je gemacht habe. Wenn es gelingt, das auf dem Zentralcomputer im Verteidigungsministerium zu installieren, kann man von außen alle Befehlswege steuern. Gleichzeitig sind die internen Wege tot. Aber das merken die zunächst nicht. Die haben ein System, bei dem jeder Befehl von der empfangenden Stelle bestätigt werden muss. An sich eine gute Idee. Aber das Programm ist so konzipiert, dass die auf ihre Befehle die Rückmeldung kriegen, obwohl sie nie angekommen sind.“
„Genial, wie immer!“
Marios Augen leuchteten wie bei einem kleinen Kind zu Weihnachten. Er erklärte weiter: „Dann kannst du von außen jeden beliebigen Befehl geben. Angriffe, die ins Leere gehen, oder noch besser, gegen die eigenen Leute. Du kannst irgendwo zum Rückzug blasen, ganz wie du willst.“
„Aber das müssen die doch irgendwann merken!“
„Das wird dauern“, wischte Mario den Einwand wie eine lästige Fliege beiseite. „Das Assadregime ist eine völlig autoritäre Diktatur. Da funktionieren die Entscheidungswege fast nur eindimensional von oben nach unten. Mittlere und untere Ebenen haben wenig eigene Entscheidungskompetenz. Bis dann oben wieder ankommt, dass unten alles schief gelaufen ist, vergeht Zeit, viel Zeit. Und wenn man merkt, die schnallen, dass da etwas nicht in Ordnung ist, kann man die Stufe zwei des Programms aktivieren. Und die ist noch bösartiger als die Erste, denn die zerstört einfach nur. Wenn die eine Weile läuft, ist die gesamte computergestützte Infrastruktur des Militärs restlos ruiniert. Bis da wieder etwas läuft, vergehen Wochen, wenn nicht Monate. Und in der Zeit sollten die Jungs vom Widerstand eine ganze Menge bewirkt haben.“
„Und wenn die rauskriegen, wer das Programm geschrieben hat?“, fragte Thomas Dehler skeptisch.
„Tja, dann geht es uns an den Kragen. Der syrische Geheimdienst soll überhaupt keinen Spaß verstehen.“
„Lohnt sich das wirklich?“
„Nun, bei einer Million muss man gewisse Risiken in Kauf nehmen. Und wenn die Sache funktioniert und wir Assad mit diesem Ding hier zu Fall bringen sollten, sind wir saniert. Wir können uns dann vor neuen Aufträgen nicht mehr retten.“
„Das ist Zukunftsmusik. Du hast noch ein zweites Programm geschrieben?“
„Nicht wirklich. Im Grunde ist das nur die zweite Stufe des Ersten, isoliert. Das müsste man im Zentralrechner der Staatsbank und in einer anderen hohen Behörde installieren, dann läuft auch im zivilen Bereich nichts mehr. Insbesondere das Finanzchaos wäre dann total. Man wird dann keinerlei Transaktionen mehr durchführen können.“
Aber Thomas Dehler war immer noch nicht restlos überzeugt. „Du sagst das so selbstverständlich: ‚Muss man im Rechner sowieso installieren.’ Geht das denn wirklich so einfach, haben die denn keinen wirkungsvollen Schutz?“
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