Ich mochte seinen Humor nicht, er kam doch gerade zu spät! „Frau Jansen, seien sie so gut und schicken mir bitte den Herrn Schuster rein. Ach, und sagen sie ihm auch, dass er zum Friseur muss.“
Ich fühlte mich übergangen.
„Sie haben es wohl mitbekommen, Herr Schuster?“, zwinkerte mir Frau Jansen zu.
Mir blieb also nichts anderes übrig, als schnellstens zum Friseur zu gehen. Ich folgte meinem Chef in sein Büro. Er hatte schon seinen Platz hinter einem ausladenden mahagonifarbenen Schreibtisch eingenommen und blickte mir bereits etwas ungeduldig entgegen.
„Setzen sie sich bitte, Herr Schuster. Ich möchte mit ihnen ihren Auftrag der nächsten zwei Tage durchsprechen“, wies er mich an. Wie bitte, dachte ich, wieso für die nächsten zwei Tage? Wir hatten Freitag und das Wochenende stand bevor! „Wie sie sicher wissen“, fuhr er gewichtig fort, „haben wir erfolgreich an dem Projekt GTC mitgewirkt. Und unser Institut konnte durch umfassende Prüfungen tatsächlich noch kleinere Schwachstellen ausfindig machen und grundlegend beseitigen, womit wir die Effizienz der Anlage erheblich verbessern konnten.“
Mir fiel gerade in dem Augenblick leider nichts zum Thema GTC ein, aber ich versuchte, meinen Chef so wissend wie möglich anzuschauen.
„So, wie sie gerade schauen, wissen sie wahrscheinlich nicht wovon ich rede!? Das GTC, Herr Schuster, das GranTeCan ist das größte Teleskop Europas“, erklärte Herberts. Dabei lehnte er sich zurück und versank in seinem, für ihn etwas zu großen Sessel. Ich sammelte meine Gedanken, bevor ich etwas sagte. Klar, wusste ich nun wovon er sprach.
„Natürlich kenne ich das Gran Telescopio Canarias, Herr Herberts“, antwortete ich sicher, „allerdings erst jetzt unter dieser Abkürzung GTC.“
Ich konnte es nicht ausstehen, wenn Vorgesetzte unnötig unverständlich redeten und fachidiotische Abkürzungen verwendeten, die wahrscheinlich nur ihnen und einem sehr kleinen Kreis von Mitarbeitern geläufig waren. Er hatte mich damit leicht verärgert.
Aber ich sprach einfach weiter, „Das Teleskop wiegt 500 Tonnen und ist 41 Meter hoch, das entspricht einem 13-stöckigen Hochhaus. Es hat einen Parabolspiegel von 10,4 Metern Durchmesser und es steht auf dem 2400 Meter hohen Gipfel des ‚Roque de los Muchachos‘ auf La Palma“.
Nach meinem unaufgefordert abgelieferten Vortrag schaute ich ihn nun herausfordernd an.
„Richtig, Herr Schuster, und genau wie bei dem VLT hat wieder einmal unser Labor unabhängige Untersuchungen durchgeführt und erhebliche Verbesserungen entwickelt“, wiederholte sich Herberts noch einmal unbeeindruckt.
VLT, nicht auszuhalten, dachte ich und antwortete, „Dann kann es sich bei dem VLT ja nur um das Very Large Telescope auf Cerro Paranal in Chile handeln, welches von der ESO, der Europäischen Südsternwarte, betrieben wird.“
„Genau, und da sie ja so gut vorbereitet sind, Herr Schuster, wissen sie auch, dass wir neuste Technologien geliefert haben, die Justierungen der einzelnen Stellmotoren an den Parabolspiegeln neu berechneten und so durch unser Zutun die Modernisierung der Anlage erfolgreich beendet werden konnte“, gab er zurück und unterstrich noch einmal die Tatsache, dass das Unternehmen einen großen Beitrag zum Erfolg beigesteuert hatte.
Ja, ich hatte es verstanden. Ich wusste aber leider immer noch nicht, worum es genau ging. Ich hatte versäumt, mich umfassend zu informieren. Hätte ich doch gestern Abend besser noch meine dreihundert neuen E-Mails durchgecheckt, dann wäre ich jetzt besser vorbereitet gewesen. Aber ich hatte mich gestern Abend mit einem kühlem Bier dringend von den zwei Tagen Ersthelfer-Kurs erholen müssen und bin vor dem Fernseher eingenickt. Nachts bin ich noch einmal wach geworden und hatte mich ins Bett geschleppt. Ich hatte wieder verschlafen, da irgendetwas mit meinem Wecker nicht stimmte. Es blieb mir gerade noch genug Zeit zum Rasieren.
Ich musste jetzt eben ein bisschen improvisieren, um vor meinem Vorgesetzten nicht als "Loser" dazustehen, und kratzte mir noch den Rest meiner Kenntnisse aus den Gehirnwindungen.
Ich fragte, „Aber das GranTeCan ist doch erst seit 2008 in Betrieb, war denn eine Modernisierung schon notwendig?“ „Auf dem Gelände“, antwortete Herberts, „betreiben das IAC, das Astrophysikalische Institut der Kanaren, und andere Forschungszentren bereits mehrere Sternwarten. Speziell auf La Palma befindet sich das Astrophysische Observatorium La Palma. Unter der Beteiligung internationaler Astrophysiker aus circa zwanzig Ländern und fast sechzig Institutionen wurde 1984 das ‚Observatorio Astrofisico‘ errichtet und ständig weiter entwickelt. Eine Sternwarte, die zu den bestausgerüsteten weltweit zählt. An diesem Standort der Europäischen Nordsternwarte stehen 15 Teleskope für Grundlagenforschung.“
„Ja, ich habe schon viel von dem Vorgänger, dem Wilhelm-Herschel-Teleskop, gehört, das bis zur Eröffnung des GranTeCan das größte Teleskop auf La Palma war. Betrieben wird es von Großbritannien aus und ist nach wie vor eines der wichtigsten Teleskope weltweit. Es dient der Beobachtung von Planeten, Asteroiden, Kometen, Schwarzen Löchern und Galaxien“, warf ich dazwischen.
„Ständige Weiterentwicklungen sind da nichts Außergewöhnliches, Herr Schuster“, sprach Herberts unbeirrt weiter, „und morgen Nachmittag findet im GTC eine Presseveranstaltung statt. In dieser werden die Neuigkeiten der Öffentlichkeit vorgestellt und wir möchten dort vertreten sein. Einladungen wurden hierfür nicht verteilt. Trotzdem werden wir sie nach La Palma schicken. Sie werden dort unser Institut präsentieren und den Gästen von unserem außerordentlich erfolgreichen Beitrag zur Entwicklung berichten. Hierüber erhalten wir die Möglichkeit, unser Unternehmen in der Welt noch bekannter zu machen.“
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich sollte auf die Kanaren fliegen und das auf Firmenkosten! In mir kam Freude auf und das Urlaubsfeeling war wieder da. Endlich raus aus diesem kalten Regenwetter! Aber, eigentlich war doch auch Wochenende und die Party bei Kathy würde ich dann wohl auch verpassen, dachte ich. Aber die Partys auf La Palma waren vielleicht besser als bei Kathy.
„An wen muss ich mich denn vor Ort wenden, Herr Herberts?“, fragte ich.
„Das werden sie schon selbst herausfinden! Sie werden noch umfassend vorbereitet werden.“
Das klang nach Anstrengung. Sofort sank meine gerade angehauchte Urlaubstimmung nach unten, und zwar bis weit unter den Gefrierpunkt, also bis fast -273 Grad. Das ist die durchschnittliche Temperatur im Weltall.
Ich war auf einmal aufgeregt und nervös, sagte aber nichts mehr dazu. Ich stand auf, verabschiedete mich mit einem knappen Kopfnicken und begab mich schon zur Tür, als Herberts mich noch einmal ansprach.
„Denken sie daran, dass ihre Firmenkreditkarte für diese Zeit bis maximal eintausend Euro belastbar ist, Herr Schuster!“
„Ja natürlich“, antwortete ich knapp.
„Und bringen sie die Belege und Quittungen mit.“
Auch das bejahte ich noch, während ich das Büro verließ. Eintausend Euro, damit könnte ich sicher ein schönes Wochenende auf La Palma verbringen. Schon besserte sich meine Laune wieder. Den Rest des Tages verbrachte ich mit den Vorbereitungen für meinen Aufenthalt auf La Palma.
Die Sonne brannte, als ich aus dem Flugzeug stieg. Die Luft flimmerte. Ich wusste nicht, was heißer war, die von der Sonne aufgeheizte Luft oder der Flughafenasphalt. Die Hitze kam von überall gleich her, von unten, von oben, von allen Seiten. Das war eigentlich recht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Es war erst Frühling und wahrscheinlich hatte ich bei unseren langen Wintern vergessen, wie heiß es sein kann.
Luftflimmern, dachte ich, während ich mit den anderen Passagieren noch ein Stück über das Rollfeld gehen musste, bezeichnet das Phänomen, welches an den Grenzen von sich bewegenden Luftschichten mit unterschiedlichen Temperaturen entsteht.
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