„Aha, na dann bis morgen“, sagte Franky noch, nahm seine Jacke und verschwand in Richtung Ausgang.
Ich hatte nicht mitbekommen, dass sich bereits alle gleichzeitig in einer Traube an der Tür drängelten, um den Raum zu verlassen. Ich wartete, bis der Stau sich aufgelöst hatte, und ging dann stressfrei aus dem Gebäude. Natürlich würde ich nicht zu meiner Mutter fahren, obwohl ich das mal wieder tun sollte. Ich fuhr an diesem Tag auch nicht mehr in die Firma, sondern direkt nach Hause.
Ich genoss es, während der zwei Kurstage nichts mit der Firma und meinen neuen Aufgaben dort zu tun zu haben. Das war fast wie ein kleiner Urlaub.
Ich holte mir ein kühles Bier aus dem Kühlschrank und fläzte mich entspannt vor den Fernseher. Ich dachte an morgen und war gespannt auf den nächsten und auch letzten Erste-Hilfe-Kurstag, an dem ich mit der netten Brünetten flirten würde. Ich hoffte darauf, dass die Kursleiterin das Seminar morgen vorzeitig beendete. Dabei würde vielleicht ein schöner freier Nachmittag herausspringen.
*
Es war wieder soweit, seit zwei Stunden saß ich neben Franky und versuchte dem Kurs etwas Positives abzugewinnen.
Erfolglos.
Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er überfahren worden, so wie bei den armen Beispielopfern, die man uns per Overhead-Projektor zur Anschauung vorführte.
Die nette Brünette hatte mir morgens direkt zu Anfang des Kurses schon Hoffnung geschenkt. Sie fragte nach mehreren kleinen Pflastern für ihre Finger. Sofort überkam mich mein Beschützerinstinkt, und ich half der Kursleiterin, die Pflaster zu besorgen.
Entgegen meiner Erwartung klebte sie sich die kleinen Pflaster allerdings nicht auf irgendwelche Wunden, sondern befestigte damit ihre abgebrochenen, künstlichen Fingernägel. Als nächstes fragte sie, ob wir heute etwas früher Schluss machen könnten, da sie noch einen Termin wahrnehmen wolle. Die Kursleiterin überlegte nicht lange, da sie augenscheinlich auch nur wenig Lust auf einen langen Kurstag verspürte, und stimmte schnell zu.
Sofort nahm Tina, so hieß die Brünette, wie ich nebenbei erfuhr, ihr Handy und telefonierte lautstark vor der ganzen Gruppe, „Ja, hi, Tina hier. Sag mal, hast du heute so um halb fünf vielleicht Zeit für meine Nägel? Die fallen mir schon so komisch ab.“ Meine Lust auf flirten war auf einmal irgendwie verflogen.
Vielleicht nicht ganz, denn ich bemerkte, wie der redefreudige Lackaffe sich angeregt mit einem Kursteilnehmer unterhielt. Er hatte eine Flirtpause bei der Blonden eingelegt. Sie war also kurzzeitig unbequatscht. Ich versuchte es noch einmal mit meinem Charme, aber sie ignorierte mich fortwährend.
Also begnügte ich mich daraufhin vor lauter Langeweile mit Franky, der an diesem Tag verspätet den Raum betreten und sich direkt freundschaftlich neben mich gesetzt hatte. Da ich keinen besseren Kandidaten für mein kurzfristiges Kontaktbedürfnis fand, fragte ich ihn ein wenig gelangweilt, aber aus tiefstem Herzen ehrlich,
„Sag mal Franky, schämst du dich eigentlich nicht? So als Kurz-mal-auf-der-Uni-Philosophie-Student auf Kosten von steuerzahlenden Bürgern dein Leben nutzlos als arbeitsloser Schnorrer zu verbringen?“ Ich blickte ihn fragend an und bemerkte dabei, dass seine Gesichtsfarbe sich alarmierend veränderte. „Wie kommst du denn darauf? Nur weil ich nicht arbeiten brauche, glaubst du, ich bin ein arbeitsloser Schnorrer?“, entrüstete sich Franky in meine Richtung.
„Nun ja, es macht eben den Eindruck. Ist es denn nicht so?“, entgegnete ich unbeeindruckt.
„Du glaubst bestimmt, dass ich hier aus Langeweile sitze, stimmt’s? Pass auf, meine Eltern waren echt gut im Aktiengeschäft und haben mir dadurch alles ermöglichen können, was man sich mit Geld leisten kann. Nur sie selbst sind mir nicht erhalten geblieben, da ihr Porsche leider zu schnell war und nicht mehr rechtzeitig zum Stehen kam, als das Stauende auf einmal da war. Ich war damals erst fünfzehn, als ich sie verlor.“
Ich starrte ihn wohl mit offenem Mund an, was ihn dazu ermunterte, wirkungsvoll noch einen draufzulegen.
„Und seitdem versuche ich den Menschen zu helfen, mit meinem Engagement und einer kleinen Stiftung, deren Fortbestand ich zu sichern versuche.“
Oh, da war ich mit meiner Einschätzung wohl etwas voreilig gewesen. Eine kurze Zeit schämte ich mich ein bisschen für meine Taktlosigkeit. – Ach was, vielleicht war es auch nur weichgespülte Herumlaberei. Er war nicht nur aufdringlich, sondern jetzt auch noch ein Weltverbesserer. Rührend.
„Sorry, tut mir leid“, sagte ich, mehr fiel mir dazu nicht ein. Ich nahm mir vor, es mit jeglicher Kontaktaufnahme für den Rest des Kurses bleibenzulassen.
Das Resümee der letzten zwei Tage war: Keine neue Freundin und der neuste Kumpel ist auch schon wieder vergrault.
„Hey, ist nicht so schlimm, Mann. Mach nicht so ein Gesicht. Es passiert mir öfter, dass man mich falsch einschätzt. Ich will nur nicht, dass jeder sofort merkt, dass ich reich bin. Was machst du denn so beruflich?“, fragte mich Franky.
Ich betrachtete Franky von der Seite. So, wie er sich kleidete und gab, sah er eher aus wie ein nachlässiger armer Schlucker, und nicht wie ein reicher Schnösel mit dramatischer Lebensgeschichte.
„Ich habe Physik studiert und direkt meinen Doktor hintendran gehangen“, antwortete ich fein ehrlich, obwohl mir seine Story immer noch als eher erfunden erschien. Aber ich machte mir nichts daraus und erzählte weiter, „Jetzt habe ich vor kurzem meinen ersten Job gefunden.“
„Doktor in Physik? So siehst du aber auch nicht gerade aus! Wobei deine Frisur schon an Einstein erinnert! Wo jobbt man denn so als Physikdoktor?“
Mist, ich muss unbedingt zum Friseur, dachte ich und antwortete, „Hm, eigentlich wollte ich jetzt endlich mal praktisch werden und das Gelernte irgendwie anwenden, als Entwickler in der Industrie oder so etwas in der Art. Aber jetzt hat mich die Firma, in der ich arbeite, erst einmal als Außendienstmitarbeiter eingestellt.“
„Und welche Firma ist das?“, fragte Franky interessiert dazwischen.
Es war ein großes Hightechunternehmen, aber ich hatte nun wirklich keine Lust, ihm Einzelheiten zu erzählen. Was wollte der von mir? Ich erzählte also stur und so langweilig wie möglich weiter, ohne auf seine Unterbrechung einzugehen. „Wir prüfen im Auftrag unserer Kunden noch einmal deren Entwicklungen. Ziemlich verantwortungsvoll, denn erst wenn wir das OK für sehr kostspielige Produktionen, wie zum Beispiel Neuerungen in der Autoindustrie, oder Ähnliches gegeben haben, gehen diese in die Produktion. Außerdem haben wir eine Hightech-Entwicklungsabteilung, die ausschließlich für die Forschung arbeitet.“
Franky hörte mir sehr aufmerksam zu. Er sagte nichts und schaute mich interessiert an, als erwartete er, dass ich unser Gespräch weiter fortsetzen würde. Ich empfand es als aufdringlich und hatte keine Lust zu einer Fortsetzung. Ich schaute ihn nur kurz an und richtete meine Aufmerksamkeit wieder der Kursleiterin zu.
Kurze Zeit später fragte er mich noch, ob er mich nach dem Kurs auf ein Bier einladen dürfe. Ich ignorierte es und tat, als hätte ich seine Frage nicht mitbekommen, was ihn sichtlich enttäuschte. Es kümmerte mich jedoch nicht, und ich tat so, als würde ich konzentriert dem Seminarverlauf folgen. Das Gespräch über meine Tätigkeit erinnerte mich sofort wieder an meinen Job. Eigentlich prüfte oder entwickelte ich überhaupt nichts. Ich war an keinem der vielen Projekte unserer Firma direkt beteiligt. Ich war sozusagen ein Botschafter oder Vertreter dieses Unternehmens. So hatte ich mir meine Tätigkeit eigentlich nicht vorgestellt.
Mein Vorgesetzter, Herr Herberts, sagte immer, dass ich einer der Repräsentanten der Firma sei. Das hörte sich seiner Meinung nach wahrscheinlich als sehr erstrebenswert an. Ein positiver Aspekt war, dass ich einen ausgedienten Firmenwagen nutzen durfte, und das auch privat. Ich hatte zwar nicht meinen Traumjob gefunden, aber wenn ich es recht überlegte, hatte er viele äußerst angenehme Seiten. Doch eigentlich war es ein sehr guter Job. Aus diesem Grund ließ ich auch dieses ‚spannende‘ Seminar über mich ergehen. Da ich häufig zu Vorführungen, Vorstellungen, Presseveranstaltungen, Messen, Events etc. geschickt werden sollte, wo meist viele Menschen zusammenkommen, könne es nur von Vorteil sein, sich mit Ersthilfe auszukennen, hatte Herr Herberts gesagt. Man wisse ja schließlich nie, was passiert, und es gehöre einfach mit dazu, um ein gutes Bild abzugeben. In Gedanken an das Gespräch mit Herrn Herberts erinnerte ich mich an meinen morgigen Termin bei ihm! Ich sollte eigentlich vorbereitet dort erscheinen und meinen E-Mail-Eingang noch einmal checken. Manchmal dachte ich, meine Hauptaufgabe bestünde darin, jegliche Konversation, wie E-Mailverkehr etc. in- und auswendig zu kennen, ja sogar studieren zu müssen, um über alle Informationen zu unseren derzeitigen Projekten auf dem Laufenden zu sein. Ich hatte das Gefühl, im Verteiler aller Mitarbeiter zu sein, und puzzelte mir aus dem Schwall an Informationsaustausch sämtliche Fakten heraus, die meine Arbeit betrafen. Indem man mir sämtlichen Schriftverkehr zur Verfügung stellte, war man wahrscheinlich der Überzeugung, mir die Möglichkeit zu geben, zu den bestinformiertesten Mitarbeitern zu gehören. So kam es mir jedenfalls vor. Schließlich sollte ich in der Lage sein, über jedes noch so kleine Detail Rede und Antwort stehen zu können. In meiner Hosentasche vibrierte mein Handy, wieder eine E-Mail.
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